Lehrer lancieren neue Idee für geflüchtete Jugendliche ohne Abschluss – und fordern Hunderte neue Stellen.
Im vergangenen Jahr sind Tausende Kinder in die Schweiz geflüchtet. 1900 davon allein, ohne Eltern oder Verwandte. Das stellt die Schulen vor grosse Herausforderungen. Sie müssen die Minderjährigen aufnehmen, ausbilden und aufs Berufsleben vorbereiten. Doch oft ist die Zeit dafür zu knapp. Ein 14-jähriger Geflüchteter schafft es bis zur Volljährigkeit selten, sich die nötigen Grundlagen für eine Lehrstelle anzueignen. Stattdessen droht nach dem 18. Geburtstag ein Leben in der Sozialhilfe.
Deshalb lanciert der Bildungsexperte des Schweizer Lehrerverbands, Jürg Brühlmann, nun eine neue Idee: Flüchtlinge sollen bis zum Alter von 25 Jahren das Recht haben, einen Grundschulabschluss und wenn möglich einen Berufsabschluss machen zu können. «Das würde die Perspektive für die Jugendlichen verbessern und gleichzeitig das Sozialsystem entlasten», sagt Brühlmann. Die jungen Erwachsenen könnten in separaten Klassen unterrichtet werden, aber teilweise auch im Regelbetrieb. «Natürlich nicht bei den ganz jungen», sagt er, «aber bei den 13- bis 15-Jährigen und an Berufs- und Fachmittelschulen.»
Zentral sind Deutschkurse
Viele Kantone kennen bereits altersdurchmischte Klassen auf der Sekundarstufe. Die vorhandenen Brückenangebote oder Vorlehren würden bei weitem nicht ausreichen, um alle geflüchteten Jugendlichen in die Arbeitswelt zu integrieren, sagt Brühlmann. Entscheidend sei der Deutschunterricht, aber auch Grundkenntnisse in Mathematik oder den Naturwissenschaften.
Die Schweizerische Flüchtlingshilfe steht dem Vorschlag positiv gegenüber. Die Jugendlichen sollten eine echte Chance erhalten, sich in den Arbeitsmarkt zu integrieren, sagt Sprecher Michael Flückiger. «Wenn dazu weitere Schuljahre nötig sind, begrüssen wir das.» Allerdings pocht die Organisation bei älteren Flüchtlingen in erster Linie auf Vorbereitungskurse für den Arbeitsmarkt.
Weniger überzeugt von der Idee ist der Basler Erziehungsdirektor Christoph Eymann (LDP). «Wenn das Alter für die Grundschule auf 25 erhöht wird, öffnen wir eine Schleuse, die wir kaum wieder schliessen können.»
Die neue Regel müsste dann auch für Schweizer gelten. Die Folgen seien schwer abzuschätzen. Eymann will deshalb volljährige Flüchtlinge vor allem auf die Berufsbildung vorbereiten. Er sieht ganz besonders im Gastgewerbe oder in der Baubranche gute Chancen.
Doch der Übergang in die Berufswelt ist nur die eine Seite. Schon länger fordert der Lehrerverband mehr Unterstützung von Bund und Kantonen, um die Zunahme von minderjährigen Flüchtlingen zu bewältigen. Wie neuste Zahlen des Bundes zeigen, befanden sich Ende 2016 über 20 000 Minderjährige im Asylprozess. Besondere Betreuung brauchen Kinder, die allein auf der Flucht waren, sogenannte unbegleitete minderjährige Asylsuchende. 3170 befinden sich derzeit im Prozess, allein im vergangenen Jahr kamen 1900 hinzu.
Die Schule sei kein Abstellraum, wo Kinder hineingesteckt und jederzeit wieder umplatziert werden können, sagt Brühlmann. Oft seien die Flüchtlingskinder traumatisiert. «Sie benötigen vor allem Stabilität.» Die Symptome kämen manchmal erst Monate später zum Vorschein. Das macht auch den Lehrern zu schaffen. «Statt neue Pensen bereitzustellen, wurden Sparrunden umgesetzt», kritisiert er. Die Klassen seien häufig zu gross, die Betreuung käme oft zu kurz.
Gesucht: Hunderte Lehrer
Eine Besserung ist nicht absehbar, vielmehr dürfte sich die Situation verschärfen, weil die Klassen weiter wachsen. «Wir benötigen Hunderte neue Stellen», sagt Brühlmann. Mehrere Kantone haben mittlerweile Dutzende Aufnahmeklassen geschaffen. Allein im Kanton Zürich wurden 2016 rund 500 neue Flüchtlingskinder eingeschult.
Neue Stellen sind zwar nicht in Sicht, aber mehr Geld. Die Konferenz der Erziehungsdirektoren (EDK) will mit dem Bund nachverhandeln. Bisher vergütet er die Kantone für anerkannte Flüchtlinge und vorläufig aufgenommene pauschal mit 6000 Franken pro Person. Geht es nach der EDK, soll die Prämie erhöht werden. Zu konkreten Zahlen wollen sich die Erziehungsdirektoren nicht äussern. Ziel sei es aber, weitere Angebote bereitzustellen.
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