Was ist los mit dem Schweizer Skiteam? Der Winter, dem die Verantwortlichen von Swiss-Ski mit so grosser Skepsis entgegenblickten, läuft völlig aus dem Ruder. Aber in eine Richtung, wie sie selbst die grössten Optimisten nicht einmal erträumten.
Die Schweizer Nationalhymne ist auf bestem Weg, die Nummer 1 in der Hitparade zu werden. Binnen 48 Stunden ertönte sie bereits zum dritten Mal.
Das Legenden-Treffen ehemaliger Top-Stars auf Salastrains wirkte offenbar inspirierend. Noch nie fand sich eine so erlesene Gruppe aus den guten alten Zeiten zusammen. Über zwei Dutzend Cracks folgten der Einladung: vom 75-jährigen Dumeng Giovanoli, dem einzigen Schweizer Weltcup-Slalomsieger von Kitzbühel, über Lise-Marie Morerod, der ersten Weltcup-Gesamtsiegerin aus dem Jahr 1977, bis zu Vreni Schneider, der Vorgängerin von Lara Gut, oder Paul Accola, dem kauzigen Gesamtsieger 1992, oder Peter Müller, dem erfolgreichsten Schweizer Abfahrer der Weltcupgeschichte.
Da wollten Gut, Feuz und Co. nicht nachstehen und sorgten auch in den Rennen 3 und 4 in St. Moritz für Podestplätze. Beat Feuz siegte im Super-G eine Zehntelsekunde vor den zeitgleichen Norwegern Aleksander Aamodt Kilde und Kjetil Jansrud.
Und Lara Gut sicherte sich als Zweite hinter Tina Weirather vier Tage nach dem Gewinn der grossen Kugel auch die kleine im Super-G. Das weckt Erinnerungen an die Junioren-WM 2007 in Zauchensee. «Da haben wir uns alle auch schon gesehen», schmunzelt Feuz. Der Berner gewann dort drei Titel, Tina Weirather Abfahrts-Gold vor Lara Gut!
«Skifahren und nicht rechnen», ist Laras Devise. Aber für einmal scheinen sich doch Zahlen in ihrem Kopf eingenistet zu haben. Ein 6. Platz reichte zur definitiven Sicherung des Disziplinen-Weltcups. Aber am Start wirkte die Tessinerin, die sich dort oft ein Spässchen leistet, aussergewöhnlich angespannt.
Und dann wurde wegen eines Sturzes unmittelbar vor ihr das Rennen wieder einmal unterbrochen. Aber Tamara Tippler stand schneller auf als Lindsey Vonn in Soldeu, und auch die Bedingungen waren viel besser: traumhaftes Bilderbuch-Wetter.
Nach verhaltenem Start (just 6. Zwischenrang) steigerte sich Gut auf Rang zwei und sicherte sich damit die Gesamtwertung im Super-G, 45 Punkte vor Weirather und 61 vor Vonn, die die letzten drei Rennen nicht mehr bestreiten konnte. Tags zuvor hatte sich die Rekonvaleszentin persönlich als Abfahrts-Gesamtsiegerin ihre 20. Kugel abgeholt und damit Ingemar Stenmarks Allzeit-Rekord (19 Kugeln) übertroffen.
Lara Gut legitimierte gestern ihre nicht überall verstandene Abkapslung gegenüber den Medien. Der Disziplinen-Weltcup war ihr zu wichtig. «Der Super-G ist für mich fast die wichtigste Disziplin», bestätigt Gut, «weil sie auf meine Fähigkeiten zugeschnitten ist. Schon vor zwei Jahren gewann ich diese Kugel – mit insgesamt vier Siegen. Heuer war es schwieriger. Ich musste um jeden Punkt kämpfen.» Mit «nur» einem Sieg, aber drei zweiten Plätzen reichte es schliesslich trotzdem.
Auch Suter I und II schafften es in die Top Ten. Corinne wurde starke Siebente und bestätigte sich als Versprechen für die Zukunft. Fabienne belegte trotz eines groben Fehlers noch den 10. Platz, nachdem sie bei der Zwischenzeit Zweite gewesen war. Für sie ist die Saison nun zu Ende.
Unangefochten errang Tina Weirather auf dem Hang, auf dem ihre Mutter Hanni Wenzel als 17-Jährige Slalom-Weltmeisterin geworden war, ihren zweiten Saisonsieg und hat noch theoretische Chancen auf den 3. Gesamtrang. Auch sie dürfte im nächsten Winter im Kampf um die grosse Kugel ein ernsthaftes Wort mitreden.
Bei den Männern stahl Beat Feuz den beiden Norwegern Kilde und Jansrud, die sich um die kleine Kugel duellierten, die Show. Kilde verteidigte die Poleposition. Aber Bernhard Russi sagte es träf: «In Norwegen zählen Olympia- und WM-Medaillen plus der Gesamtsieg.» Alles andere ist Beilage. So verwöhnt ist man dort mittlerweile.
Hierzulande kommt man indes aus dem Staunen nicht heraus. Was Beat Feuz aufführt, ist völlig irreal. Er selber findet keine Worte: «Es ist auch für mich schwierig, etwas darüber zu sagen. Da überlege ich mir in Kitzbühel noch, ob ich den Verletztenstatus geltend machen will, und jetzt läuft es so gut. So etwas hätte ich mich nicht einmal zu träumen gewagt.»
Staunend erzählt er selber: «Vor einer Woche erkundigte ich mich in Kvitfjell bei den Trainern, ob ich in St. Moritz im Super-G als Vorläufer starten darf.» Mit 42 Pünktlein befand er sich im Niemandsland, ohne realistische Qualifikationschance für den Weltcupfinal. Und dann wurde er dort Sechster. «Und jetzt», so Feuz, «bin ich statt Vorläufer der Sieger.» Solche Geschichten schreibt nur der Sport.