Erst sollten die Olympischen Spiele in Tokio zum Symbol der Resilienz Japans nach dem Tsunami und der Reaktorkatastrophe in Fukushima werden, danach zum Sieg der Menschheit über die Coronapandemie. Dabei geht es nur noch um Schadensbegrenzung. Eine Analyse.
Am Freitag endete in Tokio der Fackellauf; still und leise. Begonnen hatte er am 25. März in Fukushima. Ursprünglich sollten die Olympischen Spiele ein Symbol für die Resilienz Japans sein und standen neun Jahre nach dem Tsunami und der Reaktorkatastrophe von Fukushima, bei der etwa 20'000 Menschen starben und Hundertausende ihr Zuhause verloren, unter dem Motto: «Hoffnung erfüllt unseren Weg.» Nach der Verschiebung um ein Jahr erklärte sie der damalige Premierminister Shinzo Abe vorsorglich zum Symbol für den Sieg der Menschheit über die Coronapandemie.
Ein Jahr später ist Abe nicht mehr im Amt und schon längst klar, dass Tokio dieses Ziel nicht erreicht. Mehr noch: Die Olympischen Spiele werden für Japan zu einer Zerreissprobe, weil für ihre Dauer auch noch der Notstand verhängt worden ist. In einer Umfrage der Nachrichtenagentur «Kyodo News» im Juli sprachen sich 87 Prozent der Bevölkerung für eine erneute Verschiebung oder Absage der Wettkämpfe aus. Seit Wochen wird fast täglich demonstriert. Dass die Olympischen Spiele nun unter dem Motto «Einheit durch Vielfalt» verkauft werden, klingt dabei wie blanker Hohn.
Zuschauer sind im Gegensatz zur paneuropäischen Fussball-EM keine zugelassen, und es droht eine sterile Atmosphäre. Sponsoren wie Toyota verzichten auf Werbung. Tokio verzeichnet die höchste Ansteckungsrate mit dem Coronavirus seit Januar und täglich kommen neue Fälle im olympischen Dorf dazu. Das Problem sind dabei nicht die Athleten und Offiziellen, die aus dem Ausland kommen - diese sind zu 80 Prozent doppelt geimpft - sondern die Japaner selber, wo die die Impfkampagne schleppend vorangeht und erst ein Viertel der Bevölkerung geimpft ist.
Grund für diesen Rückstand ist die grosse Impfskepsis der Japaner. 1993 hatte die Regierung die Kreuzimpfung MMR gegen Mumps, Masern und Röteln verboten, nachdem ein Zusammenhang mit Autismuserkrankungen festgestellt worden war, der allerdings nie bewiesen werden konnte.
Doch eine erneute Verschiebung oder gar eine Absage wären nicht nur kompliziert gewesen, sondern auch die noch schlechteren Alternativen. Die Durchführung ist im Interesse des internationalen Sports. Für viele Athletinnen sind sie der Fixpunkt, wenn nicht sogar der Höhepunkt ihrer Karriere. Sie arbeiten während Jahren auf dieses Ziel hin. Viele von ihnen – wie der Fechter Benjamin Steffen – haben ihren Rücktritt verschoben, um noch einmal an den Olympischen Spielen teilnehmen zu können.
Dafür nehmen sie auch in Kauf, dass der Reiz des Anlasses verloren geht, weil sie frühestens fünf Tage vor ihren Wettkämpfen anreisen dürfen, spätestens 48 Stunden danach das Land wieder verlassen müssen und Begegnungen mit Athleten aus anderen Ländern und Sportarten stark eingeschränkt sein werden. Der gesamte Olympia-Tross bewegt sich in einer Blase und wird regelmässig getestet. Das ist der Preis, den sie für ihren Traum bezahlen. Für den internationalen Sport ist er alternativlos.
15,4 Milliarden hat die Verschiebung die Organisatoren offiziell gekostet, vermutlich liegt die Zahl deutlich höher. Das Internationale Olympische Komitee IOC generiert praktisch seine gesamten Einnahmen aus dem Verkauf der TV- und Sponsoringrechte. Im letzten olympischen Zyklus, der die Winterspiele 2014 in Sotschi und die Sommerspiele umfasste, löste es 5,16 Milliarden Dollar. 90 Prozent dieses Geldes fliesst an Organisatoren und Teilnehmer. Viele der 28 angeschlossenen Sommersportverbände leben zu einem grossen Teil von Geldern, die das IOC ausschüttet.
Der internationale Leichtathletik-, der Turn- und der Schwimmverband erhielten im vergangenen Zyklus 40 Millionen Dollar. Das sind im Fall der Leichtathletik rund ein Viertel der Einnahmen. Für kleinere Verbände von Sportarten wie Fechten (16,3 Millionen), Ringen (16,4) sind die Einnahmen unverzichtbar. Wären die Spiele erneut verschoben oder gar ganz abgesagt worden, wär dem internationalen Sport das Fundament entzogen worden.
Das sind Argumente, die in der Debatte über Sinn und Unsinn der Spiele selten auf Gehör stossen. Und das ist das Stossende an den Versuchen der Ausrichter, die Spiele als Symbol für den Sieg der Menschheit über eine Reaktorkatastrophe, einen Tsunami oder eine Pandemie zu inszenieren. Die Vergangenheit hat uns gelehrt, dass sie zum Scheitern verurteilt sind. Man wäre gut beraten, endlich zu benennen, um was es in Tat und Wahrheit noch geht: Schadensbegrenzung. So lange das nicht geschieht, sind die Olympischen Spiele in Tokio ein Symbol einer Niederlage.