Die Österreicherin Kira Grünberg (23) war Stabhochspringerin und auf dem Weg nach ganz oben. Bis sie im Training stürzte. Im Interview spricht sie über ihre Querschnittslähmung.
Wer sich das Genick bricht, stirbt. Das dachte Kira Grünberg. Bis die damals beste Stabhochspringerin Österreichs am 30. Juli 2015 aus vier Metern Höhe statt auf der Matte im Einstichkasten landete, sich den fünften Halswirbel brach – und weiter atmete. Seither lebt Kira Grünberg im Rollstuhl. Ihr Schicksal bewegt weit über die Grenzen Österreichs hinaus. Vielleicht auch, weil die 23-Jährige unerwartet offen und ehrlich erzählt. «Fragen Sie mich, was Sie wollen. Aber bitte nicht, wie es mir heute geht», sagt sie, als wir uns in einem Hotel in Savognin treffen.
Kira Grünberg: Hmmm ... so habe ich mir das noch gar nie überlegt. Natürlich wäre es schön, wenn ich meine zwei Beine auch brauchen könnte. Aber man passt sich schnell an, es hätte mich ja viel schlimmer treffen können.
Es gibt genügend Beispiele von verpfuschten Operationen oder solchen, die zu spät nach dem Unfall durchgeführt wurden. Diese Menschen können sich jetzt gar nicht mehr bewegen oder sind gestorben. Da hatte ich schon grosses Glück.
Als Kira Grünberg, geboren am 13. August 1993 in Innsbruck, mit sieben Jahren erstmals eine Leichtathletik-WM am TV verfolgte, war es um sie geschehen. Dass sie sich für das Stabhochspringen entschied, lag auf der Hand: Bereits Vater Frithjof war Stabhochspringer. Und er wurde gleich der Trainer seiner Tochter, weil sich sonst keiner für die talentierte Kira fand.
Der Erfolg kam schnell: Sie stellte in sämtlichen Junioren-Altersklassen Landesrekorde auf und wurde so zur grossen Hoffnungsträgerin in ihrer nicht gerade als Leichtathletik-Macht bekannten Heimat. Auch in der Schweiz hinterliess Grünberg ihre Spuren: Sie trainierte oft im Sportleistungszentrum in Magglingen mit der Schweizer Stabhochsprung-Hoffnung Angelica Moser. Und: An der EM 2014 in Zürich übersprang sie die 4,45-Marke – bis heute Erwachsenen-Rekord in Österreich. Der Weg zu einer Topplatzierung an den Olympischen Spielen 2016 schien geebnet.
Dann der Schock: Am 30. Juli 2015 stürzte sie im Training so schwer, dass sie seither querschnittsgelähmt im Rollstuhl sitzt. Das Schicksal der Tochter war für ihre Eltern schwerer zu ertragen als für Kira selbst: Mutter Karin, eine Religionslehrerin, sagte einst: «Ich habe täglich gebetet. Doch nach dem Unfall schaffte ich das nicht mehr.»
Ich lebe ja noch.
Vielleicht schon. Ein gesunder Mensch denkt, wer im Rollstuhl ist, kann sieben Achtel des Körpers nicht mehr bewegen und spüren. Doch der Körper stellt sich wirklich unglaublich schnell auf die neue Situation ein: Bei mir ist der Unfall erst eineinhalb Jahre her. Doch es fühlt sich an, als wäre das Leben im Rollstuhl selbstverständlich.
Ja! Es gibt eine Ausnahme: Im Traum sehe ich mich nie im Rollstuhl, im Traum kann ich gehen.
Wie ich ans Meer komme, über den warmen Sand laufe und ins Wasser wate. Oder wie ich über eine feuchte Wiese renne. Im Unterbewusstsein bin ich immer noch eine gesunde Frau, das ist gut so.
Eigentlich gut. Es ist wichtig, dass ich nicht vergesse, wie sich die Dinge anfühlen. Ich erlebe die Träume auch ganz intensiv, der Schnee fühlt sich kalt an.
Nein, so realistisch muss man sein.
Das auf jeden Fall. Ich war Stabhochspringerin durch und durch. Und ich würde es sofort wieder machen.
Tausendprozentig! Ich verfolge die Wettkämpfe noch intensiver als zur Zeit, als ich selber Sportlerin war. Es geht um mehr als nur das Springen, es geht auch um das Reisen, um das Wettkampfgefühl, um das Miteinander unter den Sportlern.
Lustigerweise war das genau in der Halle, in der ich gestürzt bin, ein halbes Jahr später. Falls Ihre nächste Frage lautet, wie das gewesen sei für mich: Nicht besonders. Meine Trainingsgruppe war dort, ich wollte sie schnell besuchen. Es gibt viele Plätze im Leben, an denen man unschöne Dinge erlebt hat, trotzdem geht man wieder hin.
Das ist eine sehr schwierige Frage (überlegt lange). Etwas vom Wichtigsten ist es, selber aufs Klo gehen zu können. Noch vor dem Gehen.
Damit man den Körper ein Stück weit wieder unter Kontrolle hat. Ich kann mittlerweile zwar selber den Katheter wechseln, aber das ist was anderes. Viele Menschen wissen nicht, dass eine Lähmung nicht nur die Extremitäten, sondern auch die inneren Organe und Körperfunktionen betrifft.
Äusserlich unterhalb des oberen Brustbeins. Auf den Armen ist das Gespür fleckenweise, den Daumen spüre ich gut, die Zeigefinger auf der Innenseite, die kleinen Finger gar nicht, es ist unterschiedlich. Mit den Händen bin ich recht weit, kann selber Rollstuhl fahren, obwohl ich die Finger nicht einzeln bewegen kann. Fühlen Sie mal, in den Fingern ist keine Kraft ...
Wer denkt, nur mit intakten Fingern klappen feinmotorische Dinge, liegt falsch. Anfangs habe ich immer der Mama gerufen, sie soll mir bei diesem und jenem helfen. Aber man muss das, was man selber machen kann, machen. Sonst wird man genügsam.
Früher habe ich gedacht: Ich kenne meinen Körper vom kleinen Zeh bis in die Haarspitzen. Heute sage ich: Ich habe meinen Körper kein bisschen gekannt.
Als gesunder Mensch nimmt man viele Zeichen des Körpers nicht wahr. Wenn die Blase voll ist, spürt man das und geht aufs Klo. Ich spüre die Blase nicht, dafür sendet der Körper andere Zeichen, ich bekomme Kopfweh und beginne zu schwitzen. Oder wenn ein Schuh drückt, beginnen meine Oberschenkelmuskeln zu zucken. Diese Signale sendet jeder Körper, nur nimmt ein gesunder Mensch sie nicht wahr.
Teils, teils. Natürlich bin ich es. Aber wenn ich etwa mit anderen Menschen am Tisch sitze, fühle ich mich gleich. Am Tisch fällt ja der Rollstuhl nicht auf. Vom Kopf her bin ich gleich.
Ich hatte vor dem Unfall ein sehr stressiges Leben. Training, Uni, Wettkampf – es ging nur darum, wie ich von A nach B komme. Heute bin ich viel gelassener. Ein Stau stresst mich überhaupt nicht mehr, früher bin ich durchgedreht. Ich habe gelernt, was es heisst: Es ist, wie es ist, ich kanns nicht ändern. Ich weiss einfach: Mir läuft nichts davon, was wichtig ist. Ob morgen oder übermorgen – was spielt das für eine Rolle?
Nichts, zum Glück nichts, sonst wüsste ich nicht, wie damit umgehen. Wie oft lag ich davor schon im Einstichkasten? Ich habe nicht mitgezählt. Ich hätte mir schon viel öfters das Genick brechen können und es ist bewundernswert, wie widerstandsfähig der Körper eigentlich ist. An diesem Tag haben auf eine negative Art und Weise tausend Zahnrädchen ineinandergegriffen.
Noch ist dieser Tag nicht gekommen.
Ich habe viel verloren, aber es sind auch viele Türen aufgegangen. Eine Katastrophe ist für mich etwas anderes. Das Gefühl, dass mein Leben auf den Kopf gestellt ist, hatte ich nie.
Wenn ein enger Angehöriger sterben würde. Das musste ich zum Glück noch nicht erfahren.
Schon irgendwie schräg. Ein Beispiel: Als Sportlerin hatte ich keine Chance, von einem Sponsor ein Auto zur Verfügung gestellt zu bekommen. Nach dem Unfall habe ich so viele Spenden erhalten, dass wir mein Elternhaus umbauen konnten. Finanziell ist es schon viel besser geworden. Als Sportler verzichtet man auf so viele Dinge – und bekommt kaum etwas zurück. Nach dem Unfall habe ich plötzlich unglaublich viel Aufmerksamkeit erhalten, was natürlich sehr hilfreich war. Ich habe beide Situationen erlebt. Als Sportlerin sage ich: Es ist bitter und traurig, dass mir so etwas passieren muss, damit all das möglich wird, was ich mir als Sportlerin erhofft habe.
Mit der Neugier (lacht). Im Ernst: Mein Fall ist schon extrem: Ich war Leistungssportlerin und bin von der einen auf die andere Sekunde aus diesem Leben herausgerissen worden. Von 100 auf 0, ich denke, das regt die Leute zum Nachdenken an.
Wollen Sie mir ein schlechtes Gewissen einreden?
Nein. Und jeder, der mich für meine Präsenz in den Medien kritisieren will, darf und soll das tun. Jeder geht mit so einer Situation, in der ich bin, anders um. Mir hilft es nun mal bei der Verarbeitung, viel darüber zu reden. Und ich erhoffe mir, dass durch meinen Fall auf die Querschnittslähmung aufmerksam gemacht werden kann. Für uns gibt es immer noch kein Wunderheilmittel, vielleicht kann ich als Sprachrohr etwas bewegen in diese Richtung.
Noch nie.
Wenn jemand fragt «wie geht’s dir heute?», hat er schlechte Karten.
Mag sein, aber es ist so oberflächlich. Wer sagt schon einem Fremden, dass es ihm schlecht geht?
Eindeutig schwerer als für mich. Sie haben oftmals gedacht, es gehe mir schlechter, obwohl es mir eigentlich ganz gut ging.
Habe ich sie getröstet statt umgekehrt.
Gott sei Dank nur sehr selten. Ich weine dann zehn Minuten und die Welt ist wieder in Ordnung. Doch da geht es mir nicht anders als allen Menschen. Achtung Ironie: Auch ich stehe mal mit dem falschen Fuss auf.
Ich habe immer noch den gleichen wie als Sportlerin. Er kennt mich, er weiss, dass ich halt anders umgehe mit der Querschnittslähmung als der Durchschnitt. Andere Psychologen wollten mich in eine Schublade stecken und die Therapien anwenden, die in ihren Augen ein Querschnittsgelähmter braucht. Man darf keinem Rollstuhlfahrer vorschreiben, wie er damit umzugehen hat.
Im Gegenteil: Ich freue mich drauf, ich habe noch so viel vor in meinem Leben. Das nächste Projekt ist ein Kochbuch.
Ja, aber es soll ein Kochbuch für körperlich behinderte Menschen werden. In der Reha-Klinik haben wir viel gekocht, und dabei ist mir aufgefallen, wie viel man trotz Rollstuhl und ohne Fingerfunktion noch machen kann. Nur eine Anleitung dafür gibt es noch nicht.
Das hoff ich doch sehr, medizinisch spricht jedenfalls nichts dagegen. Als ich nach der Notoperation aufgewacht bin, war eine meiner ersten Fragen an die Ärztin, ob ich noch Kinder kriegen kann. Kinder zu haben, ist kein Muss, aber einfach, dass es die Option gibt, ist sehr wichtig für mich.