Lara Gut spricht vor den Rennen in Val d’Isère über ihre wichtigste Erfahrung aus der vergangenen Saison: Die Tessinerin hat eine gewisse Gelassenheit als ihre neue grosse Stärke entdeckt, weil sie merkte, dass es nicht Perfektion braucht, um zuoberst zu stehen.
Es war für Lara Gut so etwas wie ein Schlüsselmoment. Dieser eine Gedanke, der vieles verändert hat. «Seither weiss ich wieder, wie sehr ich diesen Sport liebe. Wie privilegiert ich bin, hier zu sein und zu tun, was ich gerne mache», sagte sie am Donnerstag. Das war nicht immer so. Besonders nicht in der vergangenen, so erfolgreich zu Ende gegangenen, Saison. Da war manches eine Qual für sie.
Wann genau es passiert ist, sagte sie gestern nicht. Aber es muss irgendwann im Anschluss an das Weltcupfinale in St. Moritz gewesen sein. Als sich der Rummel etwas gelegt hatte. Die grosse Kugel für den Gewinn des Gesamtweltcups ihren Platz gefunden hatte und nicht mehr fremd wirkte im Leben der Schweizerin. Da blickte Lara Gut noch einmal zurück und merkte: «Es gab in dieser Saison einige Rennen, wo ich danach geweint habe. Es kam vor, dass ich keine Ahnung hatte, was zu tun ist.»
Und trotzdem siegte sie in der Gesamtwertung, holte die wichtigste Trophäe im Skisport. «Da habe ich gelernt, dass Perfektion nichts zu tun hat mit Sport. Ich dachte immer, man brauche eine perfekte Saison, um den Gesamtweltcup zu gewinnen.» Sie bewies sich selbst das Gegenteil.
Das hilft ihr nun, gelassener an die Rennen zu gehen. Es hilft ihr, Niederlagen leichter zu akzeptieren. «Ich arbeite nicht daran, perfekt zu sein. Ich arbeite nicht daran, perfekte Schwünge zu ziehen. Ich gehe raus und versuche, immer besser zu werden. Ich arbeite an schnellen Schwüngen, an schnelleren als die der Konkurrenz.» Zu realisieren, dass nicht alles perfekt sein muss, um Erfolg zu haben, «war ein sehr tolles Gefühl.»
Dem neuen Gefühl folgend, geht die 25-Jährige in dieser Saison vor. Es muss nicht alles perfekt sein, aber möglichst professionell. Sie will möglichst wenig Ablenkung und fokussiert sich auf das Wesentliche. Nach den Abfahrtstrainings in Val d’Isère ging es für sie immer direkt weiter. Sie holte sich Slalom-Praxis für die heutige Kombination. Während die anderen Athletinnen im Zielraum noch Auskunft gaben über ihr Befinden, war Lara Gut schon längst weg. Öffentlich gesprochen hat sie in dieser Woche nur einmal. An der offiziellen Pressekonferenz des Veranstalters und nur auf Englisch.
Der Erfolg gibt ihr recht. In sieben Rennen in dieser Saison stand sie viermal auf dem Podest, siegte zweimal. An diesem Wochenende in Val d’Isère ist sie in allen drei Bewerben die Topfavoritin. Logisch, kommen da bereits wieder Fragen nach dem Gesamtweltcup. Insbesondere, weil ihre grösste Konkurrentin in der Gesamtwertung, die Amerikanerin Mikaela Shiffrin, auf die Rennen in Val d’Isère verzichtet. Was das für sie nun bedeute, wird Lara Gut gefragt. «Ich kann nicht schauen, was Mikaela macht», sagt sie.» Es ist schon genug aufwendig, nur auf mich zu achten. Ich habe meinen Plan, das reicht.»
Ablenkung ist nicht erlaubt. Und abgerechnet wird immer am Ende. Das war schon immer das Rezept von Lara Gut. Und ist es in dieser Saison noch deutlicher. Warum sie in Val d’Isère schon immer so erfolgreich gewesen sei (siehe Zahlen rechts), wird sie gefragt. Ob es eine Liebesgeschichte sei? «Es ist schwierig, Liebe zu erklären. Entweder es funktioniert oder nicht», antwortet sie. «Doch vielleicht erinnere ich mich an meine Mutter, wenn ich hier bin.»
Mit Gabriella Gut spricht sie fast immer französisch. Mit Vater und Trainer Pauli Gut italienisch. Was Lara Gut sagt, ist mittlerweile weit pointierter als früher. Doch etwas hat sich nicht geändert. Die Zukunft ist tabu. Obwohl es Gründe gäbe, nach vorne zu schauen. Die Schweizerin ist schon früh in der Saison auf einem absoluten Top-Level, da besteht bis zur Heim-WM im Februar in St. Moritz fast zwangsläufig die Gefahr eines Formtiefs.
Viele Athletinnen betonten in der Vergangenheit, wie schwierig es sei, fit zu bleiben über einen ganzen Winter. Besonders mit einem so intensiven Wettkampfprogramm, wie jenem von Lara Gut. Sie aber denkt nicht daran. «Ich habe keine Angst. Ich stehe jeden Morgen auf und will besser werden.» Es zählt die Gegenwart. Und sie hat gelernt, dass nicht jedes Rennen perfekt sein muss, um am Ende als Siegerin dazustehen.