Kantonsgeschichte
Droht das visuelle Erbe des Kantons in Vergessenheit zu geraten?

Die Publikation der neusten Bänder der Kantonsgeschichte verzögert sich. Obwohl sie sich um das 20. Jahrhundert drehen, sind Fotografien nur schwer zu beschaffen. Es fehlt an zentralen Archiven. Droht dem visuellen Erbe des Kantons der Verfall?

Sven Altermatt
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Auch vermeintliche Gebrauchsfotografien geben Aufschluss über die Vergangenheit: SP-Bundesrat Willi Ritschard und seine Gattin Greti besuchen im Winter 1981 den Fasnachtsumzug in der Stadt Solothurn. (Archiv Solothurner Zeitung)

Auch vermeintliche Gebrauchsfotografien geben Aufschluss über die Vergangenheit: SP-Bundesrat Willi Ritschard und seine Gattin Greti besuchen im Winter 1981 den Fasnachtsumzug in der Stadt Solothurn. (Archiv Solothurner Zeitung)

Zur Verfügung gestellt

Es sollte nur noch eine Lappalie sein, was sonst? Schliesslich geht es ja um die Zeitgeschichte. Um jene Epoche also, die viele Mitmenschen noch selbst erlebt und vor allem dokumentiert haben. Sechs Jahre lang arbeiteten 15 Historiker an der «Geschichte des Kantons Solothurn im 20. Jahrhundert».

Die Manuskripte waren redigiert und lektoriert, als sich die vom Regierungsrat eingesetzte Fachkommission im Jahr 2016 an die Zweitlektüre machte. Dass die Autoren danach mit umfangreichen Korrekturen und Ergänzungen konfrontiert waren? Nichts Ungewöhnliches bei Projekten dieser Tragweite. Das Problem lauerte ganz wo anders.

Ende 2017 hätten die beiden jüngsten Bände der Kantonsgeschichte veröffentlicht werden sollen. Doch der Termin platzte. Just eine vermeintliche Lappalie durchkreuzte die Pläne der Autoren: die Illustration der Bücher. «Entgegen den Erwartungen» sei das benötigte Material auf zahlreiche Institutionen und Personen verteilt und «mehrheitlich schwierig zu beschaffen». Das wird mit einem soeben verabschiedeten Beschluss des Solothurner Regierungsrats publik. Demnach verzögert sich der Erscheinungstermin und wird neu erst auf Frühjahr 2018 festgelegt.

Schwieriges Unterfangen

Die Verschiebung könnte als blosse Randnotiz abgetan werden. Doch dahinter verbirgt sich ein Problem von grundsätzlicher Bedeutung. Es ist paradox: Im Gegensatz zu früheren Epochen ist das 20. Jahrhundert im wörtlichen Sinne reich bebildert. Kameras wurden zu einem industriellen Massenprodukt, Fotografien zu einem wichtigen Teil des Kulturguts. Sie geben Aufschluss über das Zeitgeschehen und haben eine besondere emotionale Qualität.

Ein Kanton und seine Geschichte

Das Projekt «Die Geschichte des Kantons Solothurn im 20. Jahrhundert» wurde vom Regierungsrat im November 2011 in Auftrag gegeben. Ziel ist es, die zentralen Entwicklungen des Kantons zwischen 1914 und 2000 darzustellen. Die beiden geplanten Teilbände sind in sechs thematische Längsschnitte unterteilt.

Am Projekt sind 15 Historiker beteiligt. Bisher sind unter den Titeln «Solothurnische Geschichte» und «Geschichte des Kantons Solothurn» fünf Teilbände erschienen. Zuletzt wurde im Jahr 2011 der 640 Seiten umfassende Band zu den Jahren 1831 bis 1914 veröffentlicht. (szr)

Viele Foto-Bestände sind jedoch kaum zugänglich und deshalb nur schwer nutzbar. Das mussten auch die Autoren der Kantonsgeschichte feststellen. «Das Ziel, die beiden Bände über das 20. Jahrhundert mit Illustrationen und insbesondere Fotografien als wichtige Quellen zu versehen, ist nur bedingt und mit grossem Zeitaufwand zu erreichen», halten die Historiker fest.

Für die Illustration der Bände zu früheren Epochen konnten die Autoren auf die Bestände der Zentralbibliothek und des Staatsarchivs zurückgreifen. «Das Material war gut erschlossen und hervorragend zugänglich», sagt André Schluchter. Der Oltner Historiker leitet das Kantonsgeschichte-Projekt. Das Problem der Fotoarchivierung sei erst allmählich in den Fokus gerückt, erklärt er: Für Fotografien ist keine Institution im Kanton Solothurn zentral zuständig, ein eigentliches Bildarchiv in öffentlicher Hand existiert schlicht nicht. Aufbewahrt wird vornehmlich Schriftgut.

Fotos verstauben auf Estrichen

Droht dem visuellen Gedächtnis eine Amnesie? Tatsächlich kommt erschwerend hinzu, dass die Medienlandschaft in den vergangenen Jahrzehnten umgepflügt worden ist. Zeitungen verschwanden oder gingen in grösseren Verlagen auf, das Zeitalter der Parteipresse endete. Eine folgenreiche Entwicklung für die Pressefotografie, die zeitgeschichtliche Ereignisse festhält und als Gedächtnisspeicher für nachfolgende Generationen figuriert. Gezeichnet von Umbrüchen, wurden Fotoarchive nicht mehr bewirtschaftet oder liquidiert.

Schliesslich geriet die analoge Technologie durch die Digitalisierung vollends ins Hintertreffen. So verstauben unzählige Negative, Dias und Glasplatten auf Estrichen – ohne jemals inventarisiert oder sogar digitalisiert worden zu sein. Historiker Schluchter spricht von einem drohenden Verfall. «Es geht um ein wichtiges Kulturerbe.» Fotos trügen dazu bei, gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklungen nachvollziehbar zu machen. Schluchter betont: Grundsätzlich habe er nichts daran auszusetzen, wenn Bilder dezentral aufbewahrt werden. Viel wichtiger sei, dass die relevanten Bestände zentral erfasst würden; vor allem jene von Behörden, Presse und Firmen.

Um den Fortbestand von Bildarchiven steht es nicht zum Besten. Es fehle ein zentrales System zur Archivierung, kritisierte das schweizerische Institut zur Erhaltung der Fotografie (ISCP) in Neuenburg schon mehrfach. Immerhin: Auf nationaler Ebene kümmert sich Memoriav um den Erhalt und die Erschliessung des audiovisuellen Kulturerbes.

Der vom Bund unterstützte Verein ist kein eigentliches Archiv, er versteht sich viel mehr als Netzwerk verschiedener Institutionen. Sein Onlineportal Memobase soll den Zugang zu audiovisuellen Dokumenten aus der Schweiz nahtlos ermöglichen. Derzeit sind 4300 Inhalte mit einem Bezug zum Kanton Solothurn abrufbar; darunter finden sich allerdings nicht einmal 100 Fotografien.

Termin pünktlich einhalten

Die Autoren der Solothurner Kantonsgeschichte sind derweil guten Mutes, ihr Werk im Frühling veröffentlichen zu können. In diesen Wochen sollen die Bände in den Satz gegeben werden, wie Projektleiter André Schluchter im Gespräch bestätigt. Nachdem sich die Suche nach Illustrationen viel schwieriger gestaltete, als ursprünglich gedacht, hätten die entsprechenden Arbeiten nun abgeschlossen werden können.

Fündig wurden die Autoren vor allem in den Beständen des Staatsarchivs und in den Bildarchiven der Tageszeitungen, namentlich bei der Solothurner Zeitung und beim Oltner Tagblatt. Immerhin: Zu Mehrkosten soll die Verzögerung nicht führen. Für das Kantonsgeschichte-Projekt hat der Regierungsrat aus dem Lotteriefonds insgesamt 1,75 Millionen Franken bewilligt.