Der Bundesrat will ab Oktober keine Gratistests mehr. Und er sagt: Wer jetzt krank wird, ist selbst schuld. Wir müssen niemanden mehr schützen. Damit verfolgt er nur noch ein Ziel: eine Überlastung auf den Intensivstationen zu verhindern.
Nun also doch: Wer ungeimpft ist und in den Ausgang oder ins gut besuchte Fussballstadion will, der soll seinen Coronatest ab Oktober selbst bezahlen müssen. Das sind die Pläne, die der Bundesrat am Mittwoch vorgestellt hat. Noch sind sie nicht definitiv. In der kommenden Vernehmlassung können sich die Kantone dazu äussern.
Damit erhöht der Bundesrat – indirekt jedenfalls – den Druck auf die Ungeimpften: Kommen die Pläne durch, müssen Ungeimpfte massiv tiefer in die eigene Tasche greifen. Jedenfalls wenn sie wie bisher am gesellschaftlichen Leben teilhaben wollen.
Gesundheitsminister Alain Berset ging vor den Medien allerdings nicht auf die Frage ein, ob der Bundesrat damit die Daumenschraube anziehen will, um Ungeimpfte zum Piks zu bewegen. Er argumentierte einzig und allein mit den Kosten. Berset rechnete vor, dass ein Test 47 Franken koste – und wer zehn Wochenenden nacheinander in den Ausgang gehe, belaste die Staatskasse mit fast 500 Franken.
«Wie lange lässt es sich rechtfertigen, dass die ganze Gesellschaft die Tests für eine Person bezahlt?», fragte Berset. Rund 600 Millionen Franken seien von September bis zum kommenden Jahr für Selbst- und Schnelltests budgetiert gewesen.
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In gewissen Fällen will der Bund die Tests allerdings auch künftig bezahlen: Und zwar bei den regelmässigen Tests in Firmen und Schulen, bei Kindern unter zwölf Jahren und bei Personen, die sich aus gesundheitlichen Gründen nicht impfen lassen können.
Die Tests sollen nur selbst bezahlt werden müssen, wenn es um die Freizeitaktivitäten geht: Wer Coronasymptome hat, kann sich weiterhin gratis testen lassen. Nicht mehr kostenlos geben soll es dagegen die monatlich abgegebenen fünf kostenlosen Selbsttests, die - zuletzt nur noch - Ungeimpfte in der Apotheke erhalten haben.
So oder so will der Bundesrat nun eine neue Seite in der Pandemiebekämpfung aufschlagen. Ab sofort soll die Eigenverantwortung stärker gewichtet werden. Alle, die sich impfen lassen wollten, seien inzwischen geimpft, sagte Berset. Ab sofort sei es deshalb nicht mehr das Ziel der Massnahmen, die breite Masse vor einer Erkrankung zu schützen.
Man werde auch nicht mehr auf die Zahl der Neuansteckungen schauen, sagte Berset. Künftig sollen nur noch die Belegungszahlen auf den Intensivstationen der Richtwert sein. «Man ist bereit, höhere Fallzahlen in Kauf zu nehmen und auch Todesfälle», sagte Patrick Mathys vom Bundesamt für Gesundheit.
Berset ergänzte: Der Grossteil der vulnerablen Personen sei geimpft; es zeige sich, dass Geimpfte deutlich weniger schwere Krankheitsverläufe hätten. «2000 Fälle heute sind nicht vergleichbar mit 2000 Fällen im vergangenen Oktober.»
Allerdings mahnte Berset: Es seien noch mehrere Millionen Einwohner nicht geimpft, und dieses Jahr könnte die übliche Grippewelle wieder zuschlagen. Deshalb müsse man die Situation in den Spitälern genau beobachten. Und weiter:
«Wir werden nicht warten, bis die Situation ausser Kontrolle ist. Man muss genug früh handeln, wenn sich eine Überlastung abzeichnet.»
Allerdings gab BAG-Mann Mathys zu, dass es nicht ganz einfach sein dürfte, die Entwicklung auf den Intensivstationen abzuschätzen. Man wisse noch nicht, wie viele Neuinfektionen tolerierbar seien, ohne dass «wir sechs Wochen später überlastete Intensivstationen haben», erklärte er.
Welche Massnahmen zieht der Bund bei einer Überlastung in Betracht? Konkret wurde Berset nicht. Die Zeit der «grossen Schliessungen oder Einschränkungen» sei aber vorbei, sagte der SP-Mann. Der Einsatz des Zertifikates dürfte dann aber auf der Traktandenliste stehen.
Bald wird über das Covid-19-Gesetz abgestimmt. Im Hintergrund ist die Nervosität gross: Es geht es um die Grundlage für das Covid-Zertifikat. In dieses Bild passt, dass der Bund eine Übersicht über Coronamassnahmen in europäischen Hauptstädten verschickte. Die Botschaft: Die hiesigen Massnahmen waren moderat. Das ist unbestritten.
Doch der Vergleich hat Tücken, das zeigen die 19 (!) Fussnoten. Und manchmal wurde auch etwas geschummelt. Laut der Tabelle gab es nie ein Demonstrationsverbot. Wir erinnern uns: Demonstrationen mit Menschenansammlungen waren im Frühling 2020 selbst dann unzulässig, wenn die Distanzregeln eingehalten wurden.
Krippen waren nie geschlossen, das stimmt. Nur wurde dringend davon abgeraten, Kinder dahin zu bringen. Treffen zu Hause mit sechs oder mehr Personen waren in Bern neun, in Berlin während 36 Wochen verboten. Was nur in der Fussnote steht: Hierzulande galt wochenlang die 5er-Regel. Die Schweiz steht im Vergleich immer noch gut da – nur ein bisschen geschönt ist die Tabelle schon.
Offiziell hat der Bundesrat am Mittwoch die sogenannte «Normalisierungsphase» eingeläutet. Allerdings hat dies auf den Alltag keine direkten Auswirkungen: Die noch aktuellen Massnahmen wie die Maskentragpflicht im ÖV und in Innenräumen oder die Zertifikatspflicht in Diskotheken und bei Grossveranstaltungen gelten weiterhin. Fast alles ist aufgehoben. «Der ganze Rest ist weg», so Berset.
Ganz unterschiedlich fallen die Reaktionen aus. Die Lage sei «nach wie vor sehr volatil», hält die Konferenz der kantonalen Gesundheitsdirektoren eher zurückhaltend fest – mit der Delta-Variante sei ein neuer Faktor dazugekommen. Deshalb seien die noch vorhandenen Massnahmen weiterzuführen, und die Behörden müssten «weiterhin in der Lage sein, bei Bedarf rasch Massnahmen zu ergreifen».
Die SVP wiederum sieht es ganz anders: Sie fordert die Aufhebung aller Massnahmen. Und Grünen-Präsident Balthasar Glättli spricht sich für das Beibehalten der Gratistests aus, «damit auch künftig möglichst viele symptomlos Kranke entdeckt werden – und diese nicht mehr Menschen in ihrer Umgebung anstecken».