Migration von Afghanen
Druck auf Österreich, Wegducken vor Frankreich: Keller-Sutters delikater Dublin-Balanceakt

Jeden Tag reisen Dutzende Afghanen von Österreich via die Schweiz nach Frankreich. Im betroffenen Grenzkanton St. Gallen wünscht man sich rasch ein neues Rückübernahmeabkommen mit Wien. Doch im Departement von Justizministerin Karin Keller-Sutter sieht man keinen Grund zur Eile.

Christoph Bernet
Drucken
Bundesrätin und Justizministerin Karin Keller-Sutter.

Bundesrätin und Justizministerin Karin Keller-Sutter.

Keystone

Die Schweiz ist ein Transitland. Das trifft nicht nur auf den Warenverkehr auf Strasse und Schiene zwischen Nord- und Südeuropa zu. Transitland ist sie derzeit auch für afghanische Migranten, welche aus Österreich kommend in die Schweiz einreisen. Alleine im November sind gemäss eidgenössischer Zollverwaltung rund 1000 afghanische Staatsbürger irregulär über die Grenze gekommen, vor allem im St. Galler Rheintal. Nur rund 10 Prozent von ihnen stellen in der Schweiz ein Asylgesuch. Die allermeisten tauchen nach der Erfassung ihrer Personendaten durch die Polizei ab und reisen unverzüglich Richtung Frankreich weiter - und von dort teilweise nach Grossbritannien.

In Frankreich hat man keine Freude an der Einreise über die Schweizer Grenze. Die Zeitung «Le Parisien» berichtete vor Wochenfrist über die Ankunft von 41 Afghanen im Pariser Gare de Lyon in einem aus Zürich kommenden TGV. Gemäss der Zeitung berichteten manche von ihnen - wohl tatsachenwidrig - die Schweizer Behörden hätten ihre Zugtickets finanziert. Das Staatssekretariat für Migration (SEM) in Bern ist daran, «die Hintergründe dieser Presseberichte» zu klären. Es gebe allerdings noch keine «gesicherten Informationen». Auch wenn es sich bei den behördlich finanzierten TGV-Tickets um ein falsches Gerücht handeln dürfte: Frankreich prüft nun, die Züge aus der Schweiz direkt nach der Grenze anzuhalten und so irregulär einreisende Migranten abzufangen und zurückzuschicken.

In St. Gallen wünscht man sich mehr Hilfe von Österreich

Wie man sich in Frankreich über die Schweiz ärgert, so stört man sich hierzulande an Österreich. Die Kantonspolizei St. Gallen etwa intervenierte unter Beizug des Bundesamts für Polizei (Fedpol) und bat die österreichischen Behörden um eine verstärkte «Eindämmung der Schleppertätigkeit».

Offiziell läuft die Zusammenarbeit im Migrations- und Sicherheitsbereich mit Österreich reibungslos. «Die Zusammenarbeit im Rahmen des Dublin-Verfahrens mit Österreich ist sehr gut und konstruktiv», hielt der Bundesrat im September in einer Antwort auf eine Interpellation von Nationalrat Mike Egger (SVP) fest.

Seit 2001 gibt es ein so genanntes Rückübernahmeabkommen, welches auch das Fürstentum Liechtenstein umfasst. Es regelt die Bedingungen und Formalitäten bei der Rückführung von irregulär eingereisten Personen. Eine Weigerung Österreichs, dieses Abkommen anzuwenden, ist nicht auszumachen.

Der Bund sieht keinen Grund zur Eile

Dennoch sieht man auf Schweizer Seite Verbesserungspotenzial. Seit längerem werden deshalb Gespräche über eine Aktualisierung des Rücknahmeabkommens geführt. «Gemeinsames Ziel ist es, die operative grenzüberschreitende Zusammenarbeit weiter zu verbessern und effektiver zu gestalten», heisst es beim Staatssekretariat für Migration. Bis wann eine Revision des Abkommens unterschriftsreif sind, ist unklar. Die Gespräche mit den österreichischen Behörden gehen «dank dem bestehenden Abkommen ohne zeitlichen Druck vonstatten», schreibt das SEM: «Es gibt keine Frist für deren Abschluss.»

Im betroffenen Grenzkanton St. Gallen sieht man das etwas anders. Um die Zahl der irregulären Grenzübertritte zu reduzieren, seien die Verhandlungen mit Österreich über ein vereinfachtes Rückübernahmeabkommen «von zentraler Bedeutung», schrieb der Regierungsrat Ende November in einer Antwort auf eine SVP-Interpellation.

«In Wien nicht oberste Priorität»

Der St. Galler Sicherheitsdirektor Freddy Fässler (SP) hat den Eindruck, dass in den Gesprächen seit dem Sommer «keine Fortschritte mehr erzielt werden», wie er auf Anfrage sagt. Er schreibt dies der zugespitzten Migrationssituation zu. Bis zum Sommer sei die Lage «vergleichsweise ruhig gewesen». Doch seither hat Österreich einen deutlichen Anstieg von Asylgesuchen von Afghanen verzeichnet. In den Monaten August, September und Oktober gab es mehr als doppelt so viele wie noch bis zum Juni, Tendenz steigend.

Das habe die Ausgangslage für einen erfolgreichen Abschluss der Gespräche zum Rücknahmeabkommen sicher nicht verbessert. «Es ist klar, dass die Verhinderung der Weiterreise von Afghanen in die Schweiz oder deren schnelle Rückführung nach Österreich in Wien derzeit nicht oberste Priorität geniesst», so Regierungsrat Fässler. Ehrlicherweise müsse man sagen, dass dies für die Schweiz bei den Migrationsbewegungen Richtung Frankreich auch nicht der Fall sei.

Als Leiter des St. Galler Migrationsamts ist Jürg Eberle in der Praxis mit der Rückführung von Afghanen nach Österreich beschäftigt. Er teilt die Einschätzung seines Chefs Fredy Fässler: «In einer akuten Situation, wie wir sie zurzeit in beiden Ländern haben, ist eine Einigung sicher schwieriger zu erzielen», sagt Eberle. Er betont, dass die Zusammenarbeit mit Österreich auf den Grundlagen des bestehenden Abkommens gut funktioniere.

Allerdings wäre man beim Migrationsamt froh über eine Revision: «Wir hätten uns einen Abbau der Formalitäten und der Einschränkungen bezüglich Ort und Zeitfenster für die Rückübernahmen gewünscht», sagt Eberle. Es sei allerdings müssig zu spekulieren, wie die Situation jetzt aussehen würde, wenn das revidierte Abkommen noch im Sommer unter Dach und Fach gebracht worden wäre.

Keller-Sutter sieht das Problem woanders

Weshalb man sich noch auf keine Aktualisierung des Rücknahmeabkommens einigen konnte, erklärte Justizministerin Karin Keller-Sutter gegenüber Schweizer Radio SRF mit dem Wechsel in der Führungsriege: «Mein Innenminister-Kollege Karl Nehammer ist Kanzler. Das wird natürlich jetzt zu gewissen Verzögerungen führen.» Das Abkommen mit Österreich bestehe, es gehe nun darum, dieses anzupassen. Überhaupt sei nicht das Rücknahmeabkommen das «primäre Ärgernis». Keller-Sutter: «Das Ärgernis ist die Sekundärmigration, die stattfinden, im grossen Stil.» Die Afghanen, die kämen ja nicht aus Afghanistan, sondern hätten sich in Griechenland oder der Türkei aufgehalten. Die meisten hätten ein Asylverfahren in Österreich begonnen, es handle sich um Dublin-Fälle. «Es kann nicht sein, dass sich diese Personen aussuchen, wo sie als Asylsuchende dann leben wollen.»

Wie stark Keller-Sutter auf einen schnellen Abschluss eines revidierten Abkommens drängt, ist unklar. Denn die Situation an der französisch-schweizerischen Grenze ist dieselbe. Medienberichte, wonach die Schweiz Asylsuchenden TGV-Tickets kaufe, hält die Justizministerin übrigens für «heisse Luft», wie sie SRF sagte. Das habe man selbstverständlich abgeklärt. «Sie können es sich ja vorstellen: Es ist ja sicher nicht so, dass unsere Grenzwächter im TGV 40 Billetts kaufen gehen. Das ist absurd.»