Der Geburtshelfer der Boom-Gemeinde Gachnang hört nach zwanzig Jahren auf

Seit der Reorganisation 1998 ist Matthias Müller Präsident der Politischen Gemeinde Gachnang. Mitte nächsten Jahres übergibt er sein Amt einem Nachfolger, doch zuvor wird noch Jubiläum gefeiert.

Stefan Hilzinger
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Matthias Müller am Egelsee bei Niederwil, Teil des Unesco-Welterbes, wo vor rund 6000 Jahren Pfahlbauer siedelten. (Bild: Donato Caspari)

Matthias Müller am Egelsee bei Niederwil, Teil des Unesco-Welterbes, wo vor rund 6000 Jahren Pfahlbauer siedelten. (Bild: Donato Caspari)

Gachnang ist gelobtes Land für Zuzüger aus West und Ost. Die Gemeinde zwischen Frauenfeld und Winterthur hat in den vergangenen gut 20 Jahren ein beispielloses Bevölkerungswachstum erlebt. Wo bis Ende der 1980er-Jahre noch Wiesen und Äcker die Dörfer der Gemeinde trennten, wuchsen Häuschen und Häuser in den Himmel. Familien zügelten her, und auch einige Unternehmen. Mit mittlerweile 4300 Einwohnern hat die einstige Landgemeinde die historischen Städte Steckborn und Diessenhofen überholt als bislang zweitgrösste Gemeinden im Bezirk nach Frauenfeld.

Mitten in diesem Boom steht seit der Gründung der Politischen Gemeinde 1998 Gemeindepräsident Matthias Müller. In einem emotional geführten Wahlkampf setzte er sich im Herbst 1997 gegen Jakob Hürlimann durch, den langjährigen Gemeindeammann der Munizipalgemeinde. «Es war einfach an der Zeit, einen kompletten Neuanfang zu machen», sagt Müller heute, gut ein halbes Jahr, bevor er sein Amt einem Nachfolger übergeben wird. Die Jalousien im Sitzungszimmer im Neuen Schloss Gachnang sind der Hitze wegen abgedunkelt. Matthias Müller wirkt völlig entspannt. In weniger als einem Monat wählen die «Goochlinger» einen Nachfolger. Drei Männer bewerben sich um das Vollamt.

Eingemeindung mit Frauenfeld ist kein Thema

Am Anfang seiner Zeit als Gemeindeoberhaupt habe er sich als Sterbegleiter und Geburtshelfer zugleich gefühlt. Seine Wahl im ersten Durchgang war keineswegs selbstverständlich. «Einige bezeichneten mich als Verräter», sagt er, denn er hatte sich als Ortsvorsteher von Niederwil für einen Anschluss an Frauenfeld starkgemacht – eine Option, die für die heutige Politische Gemeinde nicht aktuell sei. «Sicherlich nicht, solange wir keine Probleme haben, unsere Behörden zu besetzen.»
Wenn er nun auf die zwei Jahrzehnte zurückblickt, drücken aus jeder Pore Freude und Stolz. «Gemeindepräsident ist für mich die schönste aller politischen Tätigkeiten – wenn man für eine Gemeinde wie Gachnang arbeiten darf.» Er habe nur Höhepunkte erlebt, sagt er. Der Steuerfuss gehört seit Jahren zu den tiefsten im Kanton. Die Verwaltung ist professionalisiert, das Personal teilweise seit Jahrzehnten dabei.

Der Finanzverwalter erklärt die Finessen der Rechnung

Seit kurzem beschäftigt die Gemeinde einen Finanzverwalter, der den Stimmbürgern an den Versammlungen die Finessen des neuen Rechnungslegungsmodells HRM2 erläutert. Die Schulgemeinde hält mit Entwicklung Schritt und realisiert in Islikon in den nächsten Jahren eine neue Schulanlage mit Kapazität für mehr Schüler. Statt noch in zwei Wohnungen in einem unscheinbaren Block in Islikon, arbeiten Verwaltung und Gemeindepräsident seit 2005 in der ehemaligen Mosterei, wo einst die Gebrüder Müller Blauacher-Saft und Einhorn-Cola in Flaschen füllten.

«Als ich nach meinem Herzinfarkt im Dezember 2008 wieder ins Büro kam, lag kein einziges Mäppli auf meinem Pult.»

Matthias Müller, Gemeindepräsident

Klar habe das starke Wachstum die Gemeinde gefordert, verfügbares Bauland sei mittlerweile rar. Einzonungen für die nächsten Jahre kein Thema. Bei gut 4500 Einwohner soll Schluss sein. Doch den Dorfvereinen sei es geglückt, wenigstens einen Teil der Neuzuzüger ins Boot zu holen. Leute, die sich nun für die Gemeinschaft interessieren und sich auch engagierten. «Nicht alles ist so herausgekommen, wie der Gemeinderat es sich gewünscht hatte», sagt er und zeigt aus dem Fenster auf die Grossüberbauung einen Steinwurf von der Verwaltung. Lieber hätte er es gesehen, wenn hier die Gemeinde mit einer Genossenschaft zum Zuge gekommen wäre. Hinnehmbare Flecken in einem positiven Gesamtbild.

Diskutieren statt Prozessieren

Diskussionen gebe es auch in Gachnang und im Gemeinderat. «Aber wenn wir einmal etwas entschieden haben, dann halten wir uns auch daran.» Statt rechtlicher Auseinandersetzungen habe man immer eine akzeptable Lösung gesucht. «Rechtshändel kosten bloss», sagt Jurist Müller mit ironischem Unterton. Eine persönliche Zäsur für ihn war ein Herzinfarkt im Oktober 2008. Manche Ämtli und Ämter hat er in der Folge abgegeben, 2014 auch das als Kantonsrat der EVP. Seine Anwaltskanzlei hat er aufgegeben. Doch als Gemeindepräsident aufzuhören, kam für ihn nie in Fragen. «Als ich im Dezember 2008 zum ersten Mal wieder ins Büro kam, lag kein einziges Mäppli auf meinem Pult», sagt er. Es sei ein prägender Höhepunkt für ihn gewesen, zu merken, wie Amtskollegen und Verwaltung ihn in diese Zeit entlastet und unterstützt haben.

Matthias Müller, im April 2006 vor dem Neuen Schloss Gachnang, wo seit 2005 die Gemeindeverwaltung untergebracht ist. (Bild: Nana do Carmo)

Matthias Müller, im April 2006 vor dem Neuen Schloss Gachnang, wo seit 2005 die Gemeindeverwaltung untergebracht ist. (Bild: Nana do Carmo)

Man dürfe in diesem Amt nichts persönlich nehmen, sonst sei man der Falsche. «Ich bin ein Menschenfreund mit Humor», sagt einer, der mit Nonchalance durch Gemeindeversammlungen führt, wo man Sprüche hört, wie: «Wollt Ihr diskutieren oder können wir gleich zum Apéro?» Ende Mai nächsten Jahres gibt es den letzten Umtrunk mit ihm als Präsidenten, der mit 66 in den Rentner-Stand wechselt. Hat er die Harley bereits bestellt? «Nein, ich habe den Töff diesen Frühling verkauft und mir ein E-Bike angeschafft – ein langsames.»

Hochzeit mit Hindernissen

Am Sonntag feiert Gachnang mit einem Brunch für die Bevölkerung den 20. Geburtstag der Politischen Gemeinde. Wie andernorts auch im Kanton taten sich die Ortsgemeinden der damaligen Munizipalgemeinde schwer mit einer Fusion. Nach der Reform der Thurgauer Kantonsverfassung per 1. Januar 1990 und der Abschaffung des Gemeindedualismus’ blieb den Gemeinden bis Anfang Jahr 2000 Zeit, die notwendigen Schritte zu vollziehen.
Die Munizipale bestand aus den Ortsgemeinden Gachnang, Islikon, Kefikon, Gerlikon, Oberwil und Niederwil. Ein erster Richtungsentscheid fiel Ende September 1993, als den Stimmbürgern der sechs Ortsgemeinden die Botschaft «Reorganisation der Munizipalgemeinde Gachnang» unterbreitet wurde.
An gleichzeitig abgehaltenen Versammlungen sprachen sich Gachnang, Islikon, Kefikon und Oberwil für den Zusammenschluss aus. Niederwil und Gerlikon votierten für den Anschluss an Frauenfeld. In Gerlikon fiel der Entscheid deutlich. Bei einer Rekordstimmbeteilung von 72,1 Prozent – an einer Gemeindeversammlung! – sprachen sich 124 für einen Wechsel nach Frauenfeld aus, 70 wollten zu Gachnang.

In Niederwil, dessen Ortskommission damals vom heutigen Gemeindepräsidenten Matthias Müller präsidiert wurde, strebten 67 Stimmberechtigte einen Wechsel zur Hauptstadt an,
53 waren für den Zusammenschluss zur Politischen Gemeinde Gachnang. Gerlikon kam 1998 schliesslich zu Frauenfeld. Niederwil verblieb bei Gachnang. Nach den ersten Abstimmungen im September 1993 allerdings zog sich die Gemeinde-Reorganisation in die Länge. Geklärt werden musste etwa der Wechsel der beiden bereits mit der Stadt verschmolzenen Quartiere Zelgli und Schönenhof aus der Ortsgemeinde Oberwil nach Frauenfeld. Zu lösen war auch die Ausgestaltung der Schulgemeinde. Schulkinder aus Oberwil, Niederwil und Strass waren bislang in der Obhut der Primarschule Frauenfeld. Seit Anfang 1998 ist auch hier die Primarschule Gachnang zuständig.
Zu kurzzeitigen Verstimmungen, vor allem zwischen Islikon und Gachnang, führte dann die Namenswahl für die Gemeinde, als eine Gachnanger Mehrheit einen Doppelnamen analog Uesslingen-Buch ablehnte.
Mit der Wahl des ersten Gemeinderates im Herbst 1997 fand dann die Bildung der Politischen Gemeinde Gachnang einen ersten formellen Abschluss. Im ersten Wahlgang allerdings schaffte vorerst kein Gachnanger den Sprung ins Gremium, was zu heftigen Leserbriefwechseln in den damals noch getrennten Mitteilungsblättern von Islikon und Gachnang führte. (hil)

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