Sie gibt den brummeligen Bären, die hinterlistige Hexe und den grusligen Geist.
Sie gibt den brummeligen Bären, die hinterlistige Hexe und den grusligen Geist. Trudi Gerster haucht jeder Figur Leben ein, entführt ihre Zuhörer in fremde Welten und versetzt Erwachsene wieder in ihre Kindheit, als sie mit Trudi Gersters Geschichten eingeschlafen sind – oder eben auch nicht.
Die Märchenkönigin ist mittlerweile 92 Jahre alt und veröffentlicht nach wie vor Bücher und CD mit ihren Geschichten. Und sie steht mit ihrem Namen für die Märlikarawane, die derzeit durch die Ostschweiz zieht.
Gerster startete ihre Karriere als Märchenerzählerin im Kindergartenalter. Damals hat sie sich das Lesen selber beigebracht und jede Geschichte, die sie gelesen hatte, musste sie weitererzählen. «Es war wie ein Zwang», sagte sie. Schon als kleines Mädchen vermochte sie ihr Publikum in ihren Bann zu ziehen. «Ich weiss noch, dass ich manchmal so gruselig erzählte, dass die anderen Kinder sich gar nicht mehr nach Hause getrauten.»
Die 92-Jährige ist in St. Gallen geboren und aufgewachsen. Nach der Matura begann Gerster in Zürich die Schauspielschule. Das Studium hat sie sich mit Märchenerzählen verdient – und bald war sie im ganzen Land bekannt für ihre packenden Erzählungen. Nach nur einem Jahr bestand sie die Theaterprüfung. Sie war damals erst 20 Jahre alt.
Nach ihrer Ausbildung stand Gerster als Schauspielerin auf der Bühne: Sie spielte Rollen wie das Gretchen in «Faust» oder Eva im «Zerbrochnen Krug». Erst als sie 1948 Walter Jenny heiratete, nach Basel zog und Mutter wurde, konzentrierte sie sich auf das Märchenerzählen. Doch so märchenhaft, wie alles begann, ging es nicht weiter: Die Ehe scheiterte, eine zweite ging ebenfalls in die Brüche. Ihren Elan hat Gerster trotz Rückschlägen nicht verloren. Was viele nicht über sie wissen: Sie war auch Politikerin. 1968 zog Gerster als eine der ersten Frauen in das Basler Kantonsparlament ein. Dort setzte sie sich für umweltpolitische Themen ein und kämpfte für die Kultur. Doch als Politikerin hatte Gerster mit Spott zu kämpfen: sie war die Märchentante, das «Grossrotkäppli». Dennoch blieb sie zwölf Jahre im Parlament. Auch dort konnte sie mit ihren Erzählkünsten überzeugen. «Ich hatte immer ein Publikum, das mir zugehört hat. Weil ich mich ausdrücken kann und genau weiss, wie ich die Leute ansprechen muss», sagte sie.
Die Welt der Märchen hat Trudi Gerster immer begleitet. Sie hat in ihrem Leben wohl Tausende davon erzählt – bekannte von Andersen und den Grimms, aber auch selbst erfundene. Gerster liebt zeitlos aktuelle Märchen, die sich als Gleichnisse auf Missstände und Mängel in unserer Gegenwart lesen lassen. «Des Kaisers neue Kleider» sei so ein Märchen. «Es bringt die Situation der Kunst auf den Punkt, die es aus Angst oder Bequemlichkeit nicht wagt, die Macht zu kritisieren», sagte sie einmal.
Und im «Fischer und seine Frau» sei auch alles drin: «Das Haben wird über das Sein gestellt, der verhängnisvolle Machbarkeitswahn.» Aber besonders liebt sie Hans Christian Andersens «Kleine Meerjungfrau». Aus Liebe opfert sich darin die Hauptfigur für einen Menschen. «So eine Haltung ist heute doch sehr selten geworden.» (mvl)