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Sagen die Stimmberechtigten am 27. September Ja, müssen die Gemeinden im Kanton Zürich künftig nur noch 30 Prozent der Kosten für AHV- und IV-Zusatzleistungen selbst bezahlen. Der Regierungsrat ist gegen die Vorlage, ebenso die SVP. Die Mehrheit des Kantonsrats hat sich dafür ausgesprochen.
Die Gemeinden im Kanton Zürich sind mit steigenden Sozialkosten konfrontiert. Den grössten Teil davon machen die Zusatzleistungen aus. Anrecht darauf haben jene AHV- und IV-Bezüger, deren Rente nicht ausreicht, um die minimalen Lebenskosten zu decken. Müssen sie beispielsweise ins Altersheim, kommen plötzlich hohe Kosten für Wohnen und Pflege auf sie zu. Zusatzleistungen können da helfen. Unter den Begriff fallen verschiedene Formen sozialer Hilfe, zum Beispiel Ergänzungsleistungen, Zuschüsse für Heimbewohner und je nach Gemeinde weitere kommunale Unterstützungsgelder. Die Ausgaben für die Zusatzleistungen variieren von Gemeinde zu Gemeinde. Mancherorts sind sie sehr hoch, in anderen Gemeinden bewegen sie sich auf tiefem Niveau. Die Vorlage hat zum Ziel, die Kosten gerechter zu verteilen.
Gemeinden, in denen viele ältere Menschen wohnen, haben überdurchschnittlich hohe Kosten. Stark betroffen ist die Stadt Zürich. 2018 wurde dort fast jeder fünfte Rentner mit Zusatzleistungen unterstützt. Hoch ist die Quote der Bezüger auch in Agglomerationsgemeinden wie Schlieren, wo 17,8 Prozent der AHV-Rentner Zusatzleistungen erhalten, in Opfikon (15,4 Prozent), Oberglatt (15,1 Prozent) und Dietikon (15 Prozent), aber auch in der Stadt Winterthur (13,4 Prozent) und in einigen ländlichen Gemeinden wie Wald (13,3 Prozent). Die Gemeinden können die Kosten für die Zusatzleistungen praktisch nicht selbst steuern. Sie hängen davon ab, wie sich die Bevölkerung zusammensetzt. Eine Rolle dabei spielen die Lage der Gemeinde, Wohnungspreise, Siedlungsstruktur, Anbindung an das Strassennetz und den öffentlichen Verkehr und vieles mehr. Ein Beispiel: In der flughafennahen Gemeinde Lufingen wohnen viele gutverdienende Piloten, die nach ihrer Pensionierung nicht auf Zusatzleistungen angewiesen sind. Die Quote beträgt in dieser Gemeinde deshalb nur 1,5 Prozent.
Die Zusatzleistungen an einkommensschwache AHV- und IV-Rentner werden von den Gemeinden ausbezahlt. Bund und Kanton beteiligen sich aber an den Kosten. Bisher übernahmen sie zusammen 44 Prozent des Betrags. Die Gemeinden tragen 56 Prozent. Künftig sollen sie nur noch 30 Prozent bezahlen müssen, Bund und Kanton dafür 70 Prozent.
Doch. Dazu gibt es eine Vorgeschichte: Im Herbst 2019 beschlossen die Zürcherinnen und Zürcher an der Urne die Senkung der Unternehmenssteuern von 8 auf 7 Prozentpunkte. Weil den Gemeinden dadurch Einnahmen wegfallen, schlug der Regierungsrat vor, dass der Kanton im Gegenzug ab 2021 neu 50 statt 44 Prozent der Kosten für die Zusatzleistungen übernimmt. In einem zweiten Schritt ist nun eine weitere Senkung der Unternehmenssteuern um einen Prozentpunkt geplant. Um die Städte und Gemeinden erneut ins Boot zu holen, bietet der Regierungsrat ihnen wieder ein Zückerchen: eine abermalige Erhöhung des kantonalen Anteils an den Zusatzleistungen, von 50 auf 53 Prozent. Sagen aber die Stimmberechtigten nun Ja zur Vorlage vom 27. September, würde dies hinfällig: Dann erhöht sich der kantonale Anteil sogar auf die besagten 70 Prozent – und der Regierungsrat würde sein Pfand für die weitere Senkung der Unternehmenssteuern verlieren.
2018 sind im Kanton Zürich rund 920 Millionen Franken Zusatzleistungen ausbezahlt worden, profitiert haben 47500 Personen. Der neue Verteilschlüssel hätte zur Folge, dass die Gemeinden um 160 bis 210 Millionen pro Jahr entlastet würden. Umgekehrt würde der Kanton um denselben Betrag zusätzlich belastet. Genau prognostizieren lassen sich die Zahlen aber nicht, da unklar ist, wie stark die Kosten für die Zusatzleistungen in den nächsten Jahren steigen.
Nein. Der Maximalbetrag, den eine Gemeinde pro Kopf anrechnen kann, darf höchstens 125 Prozent des Kantonsmittels ausmachen. Was darüber hinausgeht, müssen die Gemeinden selbst berappen. Das dürfte vor allem die Städte Zürich und Winterthur betreffen. Trotzdem stehen auch sie hinter der Vorlage.
Die Mehrheit des Kantonsrats hat sich dafür ausgesprochen. Im Ja-Komitee engagieren sich Vertreter der FDP, SP, GLP, Grünen, CVP, EVP und AL und auch vereinzelte SVP-Politiker. Der Verband der Gemeindepräsidenten ist ebenfalls für die Gesetzesänderung – er hat das Modell vorgeschlagen, das auch viele Gemeinden befürworten.
Ältere Menschen, die Anrecht auf Zusatzleistungen haben, könnten für Gemeinden zu einem finanziellen Risiko werden, sagen die Befürworter. Unter Umständen müssten die Gemeinden ihretwegen den Steuerfuss erhöhen. Das neue Gesetz hingegen trage zu einer fairen Finanzierung der Sozialkosten bei. In den Augen der Befürworter ist dies umso wichtiger, weil die Bevölkerung weiter altern wird. Es sei zu erwarten, dass die Kosten für die Zusatzleistungen deshalb noch mehr steigen würden. Unternehme man nichts, werde die Ungleichheit zwischen den Gemeinden noch grösser. Zudem könne eine Gemeinde nichts dafür, wenn sie hohe Sozialausgaben habe. Die Höhe der Kosten würden unter anderem von der Demografie der Bevölkerung, den Einkommens- und Vermögensverhältnissen sowie vom Angebot an günstigem Wohnraum und Alterswohnungen bestimmt. Darauf könnten die Gemeinden kaum steuernd Einfluss nehmen. Ein weiteres Argument: Bund und Kanton würden die Vorgaben für die Leistungen machen, während die Gemeinden zahlen müssten, ohne mitreden zu können. Die Forderung der Befürworter lautet deshalb: «Wer befiehlt, der soll auch zahlen.»
Der Regierungsrat ist gegen die Vorlage, ebenso die SVP. Sie hat das Referendum dagegen ergriffen. Allerdings befinden sich in ihren Reihen auch einige Befürworter des neuen Gesetzes, zum Beispiel Ernst Kocher, der Gemeindepräsident von Wald, und Roger Bachmann, Stadtpräsident von Dietikon. Ihre Gemeinden ächzen besonders stark unter den Sozialkosten. Viele Gegner wiederum finden sich in der FDP, die in der Frage gespalten ist. Sie hat als einzige Partei Stimmfreigabe beschlossen.
Für die Gegner ist das neue Gesetz «ein mutwilliger Griff in die Kantonskasse». Der Kanton erhalte dabei nicht einmal mehr Mitspracherechte, sagen sie. Er müsse lediglich mehr zahlen. Lieber wäre es ihnen, die Gemeinden würden als Ausgleich untereinander einen Finanzierungspool schaffen, ohne dass die Kantonsfinanzen zusätzlich belastet werden. In einen solchen Pool würden alle Gemeinden solidarisch einzahlen – profitieren würden jene, die besonders stark betroffen sind. Ein weiterer Kritikpunkt: Nach dem Giesskannenprinzip würden alle Gemeinden im Kanton entlastet, selbst solche, die es gar nicht nötig hätten, etwa die reichen Gemeinden am Zürichsee. Die Gegner argumentieren zudem, der Kanton komme den Gemeinden mit der bereits beschlossenen Erhöhung seines Anteils auf 50 Prozent ohnehin schon entgegen. Der Regierungsrat bringt neu auch das Coronavirus ins Spiel. Eine weitere Erhöhung des Kantonsanteils auf 70 Prozent sei auch deshalb finanziell nicht tragbar, weil die Massnahmen zur Eindämmung des Coronavirus Spuren im Kantonshaushalt hinterlassen hätten.
Die meisten Kantone in der Schweiz steuern einen deutlich höheren Anteil an die Kosten bei als Zürich. In St.Gallen, Graubünden, Genf, Neuenburg und Freiburg sowie im Aargau und Thurgau übernimmt der Kanton die Kosten für die Zusatzleistungen sogar zu 100 Prozent.