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Region (LiZ)
Zürich
Die Irakerin Nourhane Mustafa lebt seit 2011 in der Schweiz. War sie in ihrer Heimat Arabischlehrerin, musste sie in Winterthur beruflich bei null anfangen. In einer Kita hat sie als Köchin nun eine neue Aufgabe gefunden.
Ihre Geschichte ist eine von vielen. Doch wenn man Nourhane Mustafa gegenübersitzt und ihr zuhört, fährt einem das Schicksal, das sie mit anderen Flüchtlingen teilt, durch Mark und Bein. Vor sechs Jahren ist Nourhane Mustafa (42) mit ihrer Mutter und ihrem Bruder aus der irakischen Stadt Kirkuk in die Schweiz geflüchtet. Sie habe Probleme gekriegt, weil sie ein kurzes Kleid getragen habe, erzählt sie. Mit den Islamisten lasse sich nicht diskutieren. «Ich kann mir nicht vorstellen, in den Irak zurückzukehren.» Die Situation dort habe sich seither nicht verbessert.
In der Schweiz wohnte Nourhane Mustafa in den ersten paar Jahren in Asylunterkünften, zuletzt an der Tösstalstrasse in Winterthur. «Meine Mutter, mein Bruder und ich haben uns ein Zimmer geteilt», sagt sie. «Das war sehr schwierig.» Ihr Bruder hatte in der irakischen Armee gedient, er wurde aber inhaftiert, und als man ihn aus dem Gefängnis entliess, war er nicht mehr derselbe. Es war, als wäre er behindert, erzählt Mustafa. In der Schweiz kam der Bruder schliesslich in ein Heim, Mustafa und ihre Mutter zogen in eine Zweieinhalbzimmerwohnung in Töss. 2015 verstarb der Bruder.
Es war für Nourhane Mustafa ein Wendepunkt. Danach habe sie nur noch Deutsch lernen und unbedingt arbeiten wollen. Was folgte, war nicht wie aus dem Bilderbuch, aber doch eine Integrationsgeschichte: Mithilfe des Hilfswerks Heks fand Mustafa einen Arbeitsplatz in der Winterthurer Kita Chäferfäscht. Dort half sie zwei Jahre lang aus, freiwillig und ohne Lohn. In diesem Jahr wurde endlich eine Stelle frei, und die Kita stellte Mustafa in einem 20-Prozent-Pensum an.
«Ich bin froh um diese Arbeit», sagt sie. Noch lieber würde sie aber 50 Prozent arbeiten, mit dem F-Ausweis habe sie auf dem Arbeitsmarkt aber praktisch keine Chance. Den F-Ausweis haben Migranten, deren Asylgesuch zwar abgelehnt wurde, deren Rückführung aber unzumutbar ist. Sie sind vorläufig aufgenommen. Das Asylgesuch von Nourhane Mustafa wird jedes Jahr neu beurteilt. «Auf diese Unsicherheit, dass mein Aufenthaltsrecht verfallen könnte, wollen sich Arbeitgeber nicht einlassen.»
Die Arbeit in der Kita gefalle ihr gut, sagt Mustafa. Manchmal kocht sie irakische Rezepte, zum Beispiel Dolma (Reis und Fleisch, eingewickelt in Weinblätter) oder Tapsi (Gemüse mit Tomatensauce). Meistens gebe es natürlich Schweizer Gerichte, sagt sie. «Aber wenn ich ab und zu irakisch koche, ist das Essen abwechslungsreicher.»
Ihre Chefin habe ihr beim Deutschlernen sehr geholfen. Und ebenso die Kinder, denn um diese herum habe sie weniger Hemmungen gehabt, das Sprechen zu üben. Unterdessen spricht die Irakerin schon sehr gut Deutsch, doch sie ist noch nicht zufrieden. Irgendwann will sie, die vor ihrer Flucht im Irak Arabisch unterrichtete, einen Dolmetscherkurs machen. Ihren Ambitionen lässt Mustafa noch keinen freien Lauf. Sie müsse für ihre 80-jährige Mutter sorgen, sagt sie. «Sie braucht mich.» 50 Prozent seien darum das Maximum, das sie derzeit arbeiten könne. Eine Anlehre etwa ist damit keine Option.
In der Schweiz fühlt sich Mustafa unterdessen wohl. «Als ich noch kein Deutsch konnte, war es nicht so einfach», sagt sie. Heute hat sie Freunde, Schweizer und Iraker. Mit ihnen feiert sie zum Beispiel das Neujahrsfest am 21. März. «In Kirkuk gingen wir jeweils alle raus – wirklich alle, niemand blieb zu Hause», erzählt sie. «Und dann waren wir den ganzen Tag zusammen, wir tanzten bis um Mitternacht, manche auch länger.» Hier in der Schweiz treffe man sich jeweils in der Wohnung von irakischen Freunden und feiere, allerdings eher drinnen als draussen. Am Nationalfeiertag der Schweiz gefällt Mustafa, dass er für alle derselbe ist. «Im Irak können sich die Menschen nicht auf einen Feiertag einigen», sagt sie. Die Schiiten, die Sunniten, die Kurden, die Türken – sie feiern je einen eigenen Tag.
Sie würde gerne einmal Freunde in Deutschland und Österreich besuchen, sagt Mustafa. Mit dem F-Ausweis ist es ihr aber nicht erlaubt, die Schweiz zu verlassen. Immerhin: Manchmal schaue sie für ein paar Tage bei einer Freundin im Wallis vorbei. «Sie war meine Nachbarin in Kirkuk», sagt Mustafa. Die Frau lebe mit ihrem Sohn schon seit elf Jahren in der Schweiz, ebenfalls mit einem F-Ausweis. «Ich verstehe nicht, wie der Entscheid zustande kommt, dass jemand einen F- oder einen B-Ausweis erhält», sagt Mustafa.
Sie kenne Iraker, die eine ähnliche Geschichte wie sie und einen B-Ausweis hätten, also als Flüchtling anerkannt sind. Trotz allem wirkt Mustafa zuversichtlich. «Ich glaube immer daran, dass es gut kommt», sagt sie.
Der Schritt in den ersten Arbeitsmarkt ist für viele Migranten schwierig. Unterstützt werden sie unter anderem von Hilfswerken wie Heks. Aber auch Arbeitsintegrationsprogramme der Gemeinden spielen eine wichtige Rolle. Deren Finanzierung wird mit der Abstimmung vom 24. September infrage gestellt.
Statt Sozialhilfe sollen vorläufig Aufgenommene (F-Ausweis) künftig nur noch Asylfürsorge erhalten. Heute übernimmt der Kanton während zehn Jahren die Kosten für Integrationsleistungen. Bei einem Ja zur Vorlage müssen die Gemeinden Massnahmen wie Arbeitsintegration und Sprachkurse künftig selbst bezahlen.
Die Gemeinden sind jedoch dazu verpflichtet, vorläufig Aufgenommenen dieselbe Integrationshilfe zu bieten wie anerkannten Flüchtlingen. Das Winterthurer Sozialdepartement rechnet bei einer Annahme der Vorlage mit Mehrkosten von einer Million Franken pro Jahr. In Winterthur leben derzeit 716 Personen mit F-Ausweis. Das Transfer-Programm haben seit der Einführung 2016 61 junge Flüchtlinge absolviert. (des)