Zürich
Gestrandet in der Herberge zur Heimat: Hier erhalten Männer auf der Schattenseite des Lebens eine Stimme

Die Gesellschaft stempelt sie meist als Randständige, Obdachlose oder auch psychisch Beeinträchtigte ab. Eine Ausstellung in Zürich lässt Männer auf der Schattenseite des Lebens nun ihre eigenen Geschichten erzählen – in Text und Bild.

Matthias Scharrer
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Herberge zur Heimat Dachterrasse der Herberge zur Heimat mit Blick aufs Grossmünster.
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Herberge zur Heimat
Herberge zur Heimat Herberge zur Heimat: Das Zimmer eines Bewohners ist karg möbliert.
Herberge zur Heimat Der Aufenthaltsraum der Herberge zur Heimat ist einem Bahnhofbuffet nachempfunden.
Herberge zur Heimat Ein Aschenbecher im Raucherzimmer der Herberge zur Heimat.
Herberge zur Heimat Blick in die Küche der Herberge zur Heimat.
Herberge zur Heimat Oft habe der «Druck der Gesellschaft» dazu geführt, dass die Bewohner in der «Herberge zur Heimat» landeten, sagt Herbergsleiter Maurus Wirz.
Herberge zur Heimat Herberge zur Heimat: Das Graffitti zum 150-Jahr-Jubiläum.
Herberge zur Heimat Herberge zur Heimat: Eine Schrifttafel erinnert an die 151-jährige Geschichte dieser Institution der reformierten Kirche.
Herberge zur Heimat Herberge zur Heimat: von der Dachterrasse schweift der Blick über die Stadt Zürich.

Herberge zur Heimat Dachterrasse der Herberge zur Heimat mit Blick aufs Grossmünster.

Sandra Ardizzone

Zürich ist eine aufgeräumte Stadt. Sogenannte Randständige kommen im Stadtbild nicht gross vor. Bettler sind, verglichen mit anderen europäischen Städten, auf der Strasse nur selten anzutreffen; Obdachlose noch seltener. Doch es gibt sie auch in der Schweizer Metropole: Menschen, bei denen irgendwann im Leben etwas so sehr schief lief, dass es sie aus der Bahn warf. Ein schwerer Unfall, Jobverlust, eine kaputte Ehe, dazu kommen Alkohol- oder andere Drogenprobleme, mitunter auch psychische Probleme – und plötzlich stehen sie auf der «Schattenseite des Lebens», wie Maurus Wirz sagt.

Wirz leitet in Zürich die Herberge zur Heimat. Das Wohnheim an der Geigergasse inmitten der Altstadt bietet seit 151 Jahren Männern, die von der Gesellschaft oft als «Randständige» abgestempelt werden, Unterkunft, Betreuung und Beschäftigung. In der Regel leben sie von einer Invalidenrente oder von der Sozialhilfe. «Es sind Menschen, die Pech im Leben hatten», sagt Wirz. Wirklich freiwillig seien die wenigsten hier. Oft habe der «Druck der Gesellschaft» dazu geführt, dass sie in der Herberge zur Heimat strandeten. Die 49 Plätze der Herberge seien zumeist ausgebucht. Das Durchschnittsalter ihrer Bewohner liegt laut Wirz bei Mitte 50.
Einige Bewohner der Herberge werden nun Thema einer ungewöhnlichen Ausstellung in der Photobastei: «Heimat ist auch ein Ort», lautet der Ausstellungstitel. Zu sehen sind Fotos, mit denen die Bewohner der Herberge zur Heimat ihren Alltag dokumentieren. Dazu kommen Texte, in denen sie ihr Leben erzählen, aufgezeichnet von Christian Wittwer.

Ausstellung

Die Ausstellung «Herberge zur Heimat – Heimat ist auch ein Ort» dauert vom 14. bis 24. September. Photobastei, Sihlquai 125 (2. und 3. Stock), 8005 Zürich. Öffnungszeiten: Mi–Sa 12–21 Uhr, So 12–18 Uhr.

Die hier abgedruckten kleinen Fotos und gekürzten Texte sind dem Ausstellungskatalog entnommen, der unter der künstlerischen Leitung von Christian Wittwer entstand.

Er lehrte zehn Jahre lang Fotografie und Medientechnologie an der Zürcher Hochschule der Künste. Dann machte er sich selbstständig. In den letzten Jahren spezialisierte er sich als Journalist auf Reportagen über Menschen am Rande der Gesellschaft. So kam er auch mit der Herberge zur Heimat in Kontakt. Nach einer Reportage über sie entwickelte Wittwer das Ausstellungskonzept: Sechs Bewohnern der Herberge gab er eine einfache Digitalkamera und liess sie damit ihr Alltagsleben fotografisch festhalten.

Entstanden sind Fotos und Kurzbiografien, die das Leben in Zürich aus ungewohnter Perspektive zeigen: Da ist auf einem Bild die Betreuerin zu sehen, die einem Herbergsbewohner im Raucherzimmer in die Hausschuhe hilft – und gleich daneben das Bild einer Stretchlimousine, die am Heilsarmee-Lokal vorbeifährt. Oder der wolkenverhangene Himmel über Zürich – und gleich daneben ein Herbergsbewohner, der auf dem Sofa eingenickt ist. Oder der einsam in einer Kirche betende Herbergsbewohner, der schon als Kind auf kleinkriminelle Abwege kam. In einem anderen, verwackelten Bild zeigt er die karge, aber doch persönliche Einrichtung seines Zimmers in der Herberge zur Heimat: Ein Kreuz hängt über der Tür, eine Uhr an der Wand, daneben ein Foto, das wohl seine Tochter zeigt, die er gerne einmal wiedersehen würde.

Auf einem Rundgang durch die Herberge gewährt Martin Gyger Einblick in sein schmales Zimmer: ein Bett, ein Tisch, ein Schrank – viel mehr hat nicht Platz. Auf dem Bett liegt eine Zeitung. «Ich lese viel oder gehe draussen spazieren», sagt Gyger auf die Frage, wie er seinen Alltag verbringt. Der frühere Krankenpfleger war durch einen Unfall zum IV-Rentner geworden, ist im Ausstellungskatalog nachzulesen. Was folgte, war ein sozialer Absturz in die Alkoholsucht und Obdachlosigkeit. Ein paar Minuten Berühmtheit erlangte Gyger, als ihn Tele Züri im Rahmen eines europaweiten Obdachlosenprojekts für einen Tag als Wettermoderator engagierte. Danach folgten ein weiterer Unfall und ein Jahr Reha, nach dem er schliesslich in der Herberge zur Heimat landete.

Die neue Heimat gab ihm Halt: «Seit drei Monaten trinke ich nichts mehr, ich werde getestet», sagt Gyger. Er wolle sich neu sortieren. Und: «In Zukunft möchte ich wieder alleine wohnen und eine sinnvolle Beschäftigung haben, wie hier, wo ich stundenweise in der Küche arbeite.»
Alkoholkonsum ist in den Räumen der Herberge untersagt. Doch sie liegt mitten in der Stadt, und bis halb zwölf in der Nacht können die Bewohner sich auch draussen frei bewegen. «Wir versuchen, mit den Bewohnern eine Beziehung aufzubauen und dazu beizutragen, dass sie in ihrem Leben einen Schritt weiterkommen», sagt Herbergsleiter Wirz. Manche Bewohner würden nur ein paar Monate bleiben, andere Jahre. «Sie können auch bis an ihr Lebensende bleiben», so Wirz. Eine Leichtpflegeabteilung sei vorhanden.

Martin Gyger: «Plötzlich hatte ich zu viel Zeit»

 Martin Gyger

Martin Gyger

Christian Wittwer

«Ich wurde am 30. November 1961 in Lenzburg geboren. Ich habe zwei ältere Schwestern und einen jüngeren Bruder. Nach der Sekundarschule habe ich Bäcker-Konditor gelernt. Mit 27 Jahren dann auf dem zweiten Bildungsweg noch Krankenpfleger. Zwölf Jahre habe ich im Kantonsspital Winterthur gearbeitet. Das war mein Traumberuf und eine sinnvolle Tätigkeit. 1986 wurde meine Tochter geboren, zu der ich jedoch nie Kontakt haben durfte. Ich war damals Kellner auf dem San Bernardino und ihre Mutter arbeitete dort als Chef de Réception. Ihre Eltern, steinreiche Industrielle, wollten nicht, dass ihre Enkelin mich jemals kennen lernt.

Sie meinten, sie hätte ‹was Besseres verdient›. So wurde ich damals nach Köln beordert, die Anwälte waren schon da, und ich musste unterschreiben, dass ich keinen Kontakt zu meiner Tochter suche, sie in Ruhe lasse. Dafür erhielt ich 30 000 D-Mark. Später wurde ich bei
einem Unfall angefahren und habe das Hüftgelenk gebrochen. Ich musste dreimal operiert werden und konnte nicht mehr arbeiten. Ich bekam dann eine IV-Rente. Da hatte ich plötzlich zu viel Zeit. So hat das mit der Sauferei begonnen. In der Folge wurde ich obdachlos und habe acht Jahre im VBZ-Tramhüsli beim Zoo im Schlafsack übernachtet. Tele Züri hat mich damals auf der Gasse angesprochen, ob ich als Obdachloser im Fernsehen das Wetter moderieren würde.

 Als obdachloser Wettermoderator hatte Martin Gyger einst einen Auftritt bei Tele Züri.

Als obdachloser Wettermoderator hatte Martin Gyger einst einen Auftritt bei Tele Züri.

Screenshot Tele Züri

Das Video ist noch immer auf Youtube. Später hatte ich dann noch einen weiteren Unfall und war ein Jahr in der Reha. Von dort bin ich in die Herberge zur Heimat gekommen. Seit drei Monaten trinke ich nichts mehr. Ich will mich hier neu sortieren. In Zukunft möchte ich wieder alleine wohnen und eine sinnvolle Beschäftigung haben wie hier, wo ich stundenweise in der Küche arbeite.»

Peter Zuppinger: «Konnte nicht alleine wohnen»

 Peter Zuppinger

Peter Zuppinger

Christian Wittwer

«Ich wurde am 26. Oktober 1954 in Thalwil geboren. Ich habe nach der Sekundarschule eine vierjährige Ausbildung zum Krankenpfleger gemacht und dann vierzig Jahre in diesem Beruf gearbeitet. Ich habe jetzt meine vierzig Erwerbsjahre zusammen und werde nun mit dreiundsechzig frühpensioniert. Zweiundzwanzig Jahre lang war ich verheiratet und habe zwei Buben. Mit meiner geschiedenen Frau habe ich immer noch einen guten Kontakt. 2015/16 hatte ich drei schwere Rückenoperationen, und man musste mir das Rückgrat versteifen. Auch heute hab ich immer wieder körperliche Probleme und ständig Rückenschmerzen. Irgendwann konnte ich nicht mehr alleine wohnen, war dann zuerst beim Pfarrer Sieber im ‹Suneboge› und nun seit zwei Jahren hier in der Herberge zur Heimat.

 Fischen ist Peter Zuppingers Leidenschaft: «Ich fahre oft mit einem Freund raus auf den Zürichsee.»

Fischen ist Peter Zuppingers Leidenschaft: «Ich fahre oft mit einem Freund raus auf den Zürichsee.»

Peter Zuppinger

Ja, ich hatte auch mal ein Alkoholproblem und musste einen Entzug machen. Jetzt trinke ich fast nichts mehr. Es geht mir gut. Ich zahle hier alles selber mit meiner IV-Rente und der Pensionskasse. Was mir finanziell noch zur freien Verfügung steht, reicht für mich aus. Ich bin von Samstag bis Montag zuständig für den 4-Uhr-Kaffee und die ganze Woche über für den abendlichen Spätkaffee. Das Fischen ist meine grosse Leidenschaft. Ich habe ein Fischerei-Patent und fahre oft mit einem Freund raus auf den Zürichsee.»

Hanspeter Bollier: Weder Arbeit noch Wohnung

 Hanspeter Bollier

Hanspeter Bollier

Christian Wittwer

«Ich kam am 4. Mai 1954 im sechsten Monat mit meinem eineiigen Zwillingsbruder in Zürich auf die Welt. Mit zwei Jahren kamen wir in ein Kinderheim in Klosters. Danach besuchten wir den Kindergarten und die Primarschule in Adliswil. Wir durften dann zwei Jahre in die Rudolf-Steiner-Schule in Scuol-Tarasp, wo wir neben den üblichen Fächern auch Eurythmie und Gartenbau hatten und Esel pflegen durften. Ich besuchte danach die Berufswahlschule in Zürich und machte eine Lehre als Autoservicemann. Mein Traumberuf wäre eigentlich Forstwart gewesen, aber da mein Vater eine Tankstelle mit Servicestation führte, musste ich Mechaniker lernen.

 Stretchlimousine vor dem Heilsarmee-Lokal: Hanspeter Bollier fotografierte diese Alltagsszene.

Stretchlimousine vor dem Heilsarmee-Lokal: Hanspeter Bollier fotografierte diese Alltagsszene.

Hanspeter Bollier

Ich hatte in meinem Leben mehrere Unfälle zu verkraften, zum Beispiel beide Beine gebrochen. Aus diesem Grund wechselte ich später in den Verkauf bei Coop als Rayonleiter Sport und Do-it-yourself. Ich habe in meinem Leben oft die Stelle gewechselt, fand aber immer leicht wieder eine neue Arbeit. Nach vielen Arbeitsjahren hatte ich die Gelegenheit, nach Paraguay auszuwandern, wo ich zehn Jahre lebte und eine Bar mit Disco führte. Ausserdem war ich in Südamerika auf dem Bau und als Ranger tätig. Aus gesundheitlichen Gründen und um familiäre Angelegenheiten und meine Pension zu regeln, kam ich schliesslich zurück in die Schweiz. Leider fand ich hier weder Arbeit noch Wohnung. So lebe ich zurzeit in der Herberge zur Heimat.»

Gaetano Fraccalvieri: «Habe Angst, auf der Strasse zu leben»

 Gaetano Fraccalvieri

Gaetano Fraccalvieri

Christian Wittwer

«Ich wurde am 12. August 1961 in Bari Stadt (Italien) geboren. Ich habe zwei Schwestern. Schon mit neun Jahren habe ich mit Freunden angefangen zu stehlen. Die haben dann auch Drogen genommen. Sie dachten, sie seien Helden, aber es hat ein schlimmes Ende genommen. Die sind jetzt alle tot. Ich war immer kerngesund, habe immer gearbeitet, als Heizungsmonteur zusammen mit meinem Vater auf verschiedenen Baustellen. Mit Frauen hatte ich viel Puff. Ich war zwei Jahre verheiratet und habe aus dieser Beziehung eine Tochter. Anastasia ist jetzt 27 Jahre alt und lebt hier irgendwo.

 Gaetano Fraccalvieri, Bewohner der Herberge zur Heimat, liess sich unter anderem in der Kirche fotografieren, um seinen Alltag zu dokumentieren.

Gaetano Fraccalvieri, Bewohner der Herberge zur Heimat, liess sich unter anderem in der Kirche fotografieren, um seinen Alltag zu dokumentieren.

Gaetano Fraccalvieri.

Ich hoffe, sie kommt mich mal besuchen. Meine Schwester hat ihr meine Telefonnummer gegeben, ich bin da! Ich hab ihr so viel Gutes getan, aber sie ist noch immer nicht gekommen. Wo meine Frau ist, weiss ich nicht! Bin geschieden, bin selber schuld. Acht Jahre ohne Sex. Sie sagte, ich spinne. Die Leute sagen, ich sei ein ‹dummer Siech›, ein Krimineller. Die Polizei ist dann eines Tages angerückt und hat mich aus der Wohnung rausgeworfen. Ich habe Angst, auf der Strasse zu leben in einer Stadt wie Zürich. Seit diesem Januar bin ich nun hier in der Herberge zur Heimat. Weiss noch nicht, wie es weitergeht! Ich hoffe, dass ich keine Dummheiten mache. Ein Psychiater in der Klinik erklärte mir, dass ich krank sei. Ich hoffe, ich kann hier bleiben!»