Die Brache des früheren Hardturmstadions ist ein kleines Paradies. Die Erfolgsgeschichte begann mit einem Ofen. Mit dem Stadion-Bau droht ihr nun das Ende.
«Lolo», ruft jemand. «Wo ist Lolo?» fragt einer. Lorenz De Vallier, der Brachenpfleger, den alle nur Lolo nennen, ist ein gefragter Mann an diesem Samstagmorgen. Der Verein Stadionbrache hat zum Aktionstag gerufen – zum ersten Mal in seiner siebenjährigen Geschichte. Der Container muss geräumt und geputzt werden, der Lehmofen braucht eine neue Abdeckung, vor dem einzigen Wasseranschluss bildet sich eine Pfütze – ein Abfluss muss her.
Da ist Lolo. In Gummistiefeln stapft er über die Brache, packt an, weist an. Eine Seniorengruppe aus dem Aargau wartet auf ihn. Auf einem Rundgang wollen sie erfahren, wieso dieser Treffpunkt so gut funktioniert. Wie aus einem Fussballplatz ein kleines Biotop entstehen konnte, das heute von Jung und Alt gleichermassen genutzt wird: von Quartierbewohnern und Auswärtigen, von Skatern und Brotbäckern, von Kletterern und Gärtnern. Ein kleiner grüner Fleck, der unter der Aufsicht des Brachenpflegers auch noch den Anspruch hat, trotz intensiver Nutzung die höchste Biodiversität der Stadt vorzuweisen. Die Stadionbrache ist eine Sehenswürdigkeit geworden. Erst recht, seit bekannt ist, dass der Zwischennutzung das Ende droht, weil hier bis 2021 das neue Hardturm-Stadion stehen soll.
Von nebenan, wo das alte Stadion stand, wehen die exotischen Düfte des Streetfoodfestivals herüber. Der Hartplatz dient mal Foodies, mal Fahrenden, mal einem Autokino, mal Studenten, die mit Drohnen experimentieren, mal einer Feuerwehr, die ihre Drehleiter testet. Und wenn das Zürcher Fussball-Derby ansteht, stimmen sich auf den kümmerlichen Überresten der Tribüne die GC-Fans auf das Spiel gegen den FCZ ein. Nächstes Jahr gastiert dort der Cirque du Soleil. Dieser kommerziell genutzte Bereich der Brache wird von der Stadt verwaltet. Das Nebeneinander von Veranstaltern und der in Fronarbeit erhaltenen Grünfläche des Vereins Stadionbrache klappe soweit gut, sagt De Vallier.
Regelmässig tauscht man sich aus, diskutiert und entscheidet, was drinliegt und was nicht. De Vallier, Bauernsohn, gelernter Schreiner und Gartenbauer, ist das ökologische Gewissen der Brache, von dem sich alle anstecken lassen. «Hier habe ich eine Lebensaufgabe gefunden», sagt er. Im vollen Bewusstsein, dass in zwei, drei Jahren die Bagger alles niederwalzen könnten. Angestellt ist De Vallier in einem 50-Prozent-Pensum vom Verein, der alle Arbeiten, die nicht ehrenamtlich geleistet werden, durch Spenden und einen Jahresbeitrag der Stadt in der Höhe von 30'000 Franken finanziert.
Am Anfang gab es gar kein Geld. Stefan Minder gehörte zu jenen, die sich als erste auf das damals noch umzäunte Gelände trauten – kurz nach dem Abbruch des Stadions Ende 2008. «Mit meinem Sohn rollte ich jeweils unter dem Zaun hindurch», sagt Minder. Sie streiften über die Wiese oder stiegen über die wenigen erhaltenen Stufen der Stadiontribüne.
Mit anderen Quartierbewohnern entstand die Idee, das Areal zwischenzunutzen. Die Stadt, der das Land gehört, war anfangs skeptisch. Sie sah bereits, wie der Ort von Randständigen, Drogensüchtigen und Prostituierten in Beschlag genommen würde. Doch die Initianten überzeugten die Verwaltung. Der Verein Stadionbrache wurde gegründet, seit 2011 besteht ein gegenseitig kündbares Nutzungsrecht. Bedingung: Der Abfall muss selber entsorgt werden. Hohe Lärmemissionen sind zu vermeiden, ab 22 Uhr ist Nachtruhe, Übernachten verboten.
Pläne hatte der Verein keine, sagt Vorstandsmitglied Lisa Kromer. «Wir gingen ja davon aus, dass nach ein paar Jahren ein neues Stadion gebaut wird.» Also startete man mit einem Lehmofen. Mitten auf der Wiese entstand so ein erster Treffpunkt. Der brauchte einen Unterstand. Und irgendwann begannen einige, Salat und Gemüse anzupflanzen. Ein Künstler konstruierte einen Würfel, den man erklettern konnte. Das inspirierte Jugendliche, nebenan eigenhändig eine Skateanlage zu bauen, über die sie auf ihren Brettern rollen konnten. Ihre Betonschüssel tauften sie «The Beast».
Bienenzüchter und ein zweiter Ofen für eine Brotbackgruppe folgten. Dreimal pro Woche trifft sich eine Spielgruppe in einem kleinen Wäldchen, das in einem Winkel des Areals in kurzer Zeit gewachsen ist. Jeden Montag ist ein Mittagstisch für alle – der eigene Garten liefert die Zutaten. Das neuste Projekt ist ein Hühnerstall.
Rund 80 Gärtner pflegen über 100 Kleinstflächen. 20 Untergruppen haben unter dem Dach des Vereins ihr Plätzchen auf der Brache gefunden. Offen steht sie jedoch allen. Anfangs trafen sich täglich 20 Anwohner auf dem Gelände, heute sind es um die 150, zur Hälfte Kinder.
Was ist das Erfolgsrezept der Brache? «Der Ort ist langsam gewachsen», sagt Lisa Kromer. «Er ist nicht von Anfang geplant und fertiggestellt worden.» Sie bezweifelt, dass das neue Stadion und die zwei Wohntürme ein Gewinn für die Quartierbevölkerung werden. «Statt Massen, die zu den Spielen pilgern und wieder verschwinden, wäre mir natürlich lieber, die Kinder hätten weiterhin diesen schönen Spielplatz.» Doch das sei ihre persönliche
Meinung, nicht die des Vereins. Der Verein sei neutral, was die Stadionpläne angehe.
Die Zurückhaltung kommt nicht von ungefähr. Nach der letzten verlorenen Stadion-Abstimmung stürmten Fussballhooligans auf die Brache, bedrohten deren Benutzer und beschädigten die Einrichtung. Kommt hinzu, dass der Verein ein gutes Verhältnis zur Stadt pflegt und ihm von Anfang an klar war, dass die Nutzung auf Zeit ist.
«Keine Szene, kein Feindbild»
«Eine Besetzung des Areals sei kein Thema», sagt Lisa Kromer. Eine Aussage, die Lolo De Vallier auf dem Rundgang mit den Besuchern aus dem Aargau bestätigt: «Wir sind kein Feindbild, keine Szene, die man mit Tränengas vertreiben kann», sagt er. «Wir sind verschiedenartig wie die wilden Bienen hier.»
Widerstand hat sich dennoch formiert. Jean-Marc Heuberger, der im Quartier wohnt und die Brache selber nutzt, hat mit anderen Anwohnern die IG Freiräume Zürich West gegründet. Sie kämpft nicht primär gegen das Stadion, sondern für die Brache. Zumindest der Grünraum soll im Projekt integriert werden. «Vor dem Stadion war hier übrigens eine Allmend», sagt Heuberger.
Heuberger kritisiert, dass die Anwohner nicht in die Pläne einbezogen wurden. «Heute kann man Städte nicht mehr bauen, ohne die Direktbetroffenen einzubinden», sagt der Journalist. Was sonst passiere, sehe man auf der Pfingstweid, dem Turbinenplatz oder in der Europaallee. Designte Parks und Stadtteile, die Millionen kosten, aber nicht ankommen würden. «Hier dagegen», ergänzt Stefan Minder, «haben wir einen Lebensraum mit einer viel höheren Qualität – und er kostet die Stadt fast nichts.»
Letzteres habe ironischerweise einen Nachteil, findet Heuberger. «Eine Zwischennutzung, die nichts kostet, erweckt bei Investoren und Beamten den Eindruck, dass sie wertlos ist. Dass sie ja gar nichts zerstören, wenn sie die Brache überbauen.»
Lolo De Vallier ist mit seiner Gruppe vor der Widerstandslinde angelangt. Ein Baum, den Architektur-Studentinnen vor vier Jahren gesetzt haben: In der Hoffnung, der soziale Wert der Pflanze werde bald so hoch, dass sie niemand mehr zu fällen wagt. «Ein symbolischer Akt», sagt De Vallier, «aber, wie ich finde, bemerkenswert für Architekturstudentinnen im ersten Semester.» Was ihn denn noch antreibe, diesen Ort mit Herzblut zu pflegen, wo er doch bald zunichtegemacht werde, fragt einer aus der Gruppe. «Wenn dieses kleine Paradies schon zerstört werden soll», antwortet De Vallier und lächelt, «dann soll es weh tun, richtig weh tun.»