Zürich
«Das bin gar nicht ich!»: Der unheimliche Blick in den Spiegel

Die Veranstaltungsreihe «Selbst / Portrait» setzt sich auf vielschichtige Weise mit der eigenen Identität auseinander.

Tobias Bolli
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Eine stetig wachsende Ausstellung begleitet die Themenabende.

Eine stetig wachsende Ausstellung begleitet die Themenabende.

Zur Verfügung gestellt

«Erkenne dich selbst!», ruft uns seit Jahrtausenden die berühmte Inschrift am Apollotempel von Delphi zu. In Zeiten von Selfies und Dronies, Selbstporträts mithilfe von Drohnen, ist die Frage nach der eigenen Identität, nach dem authentischen Selbst so aktuell wie nie. Sie äussert sich auf einer übergeordneten Ebene auch im wieder erstarkenden Nationalitätsgefühl: In einer immer komplizierteren und grenzenloseren Welt scheint es zu alten Bezugsgrössen zurückfinden zu wollen.

Die Veranstaltungsreihe «Selbst / Portrait», die im Theater der Künste in Zürich stattfindet, will in puncto Selbstbild und Selbstkonstruktion neue Perspektiven aufzeigen. Vom 9. bis zum 20. September wird das Thema von ganz verschiedenen Seiten beleuchtet werden. An sechs aufeinanderfolgenden Abenden, die jeweils eigene Schwerpunkte setzen, werden nicht nur Psychoanalytiker und Philosophen zu Wort kommen.

Um dem vielschichtigen Thema gerecht zu werden, entschieden sich die Initianten für einen möglichst fachübergreifenden Ansatz. So werden unter anderen der Kunstwissenschafter Hans Belting, der ehemalige ETH-Präsident Ernst Hafen und die Zirkusartistin Masha Dimitri als Referenten auftreten. Zusätzliche Aspekte werden von Vertretern der Filmwissenschaften, der plastischen Chirurgie und der Tanzkunst aufgegriffen werden.

Als Begleitprogramm zu den Themenabenden werden verschiedene Workshops angeboten. Sie erlauben es, das Gehörte zu diskutieren und eigenständig tiefer auszuloten. Nicht zuletzt gehört zum Projekt «Selbst / Portrait» auch eine stetig wachsende Ausstellung. Diese ist als Zusammenfassung und Kommentar zu den verschiedenen Abenden konzipiert und bildet damit auch ein Selbstporträt des Projekts.

Eine prekäre Angelegenheit

Das Thema ist verzwickter als wir zunächst annehmen, sagt Olaf Knellessen, seines Zeichens Psychoanalytiker und einer der Hauptinitianten. «Das Selbst lässt sich nicht eindeutig festmachen.» Vielmehr sei es immer auf etwas Anderes angewiesen, auf ein Medium, in dem es sich spiegeln und so erst hervortreten kann. Und auch was uns von diesem Medium – sei es ein Spiegel, ein Bildschirm oder ein Foto – zurückgeworfen wird: Auch es ist prekär, auch es löst immer eine Irritation aus, so Knellessen.

«Ich kenn dich zwar nicht, aber ich wasch dich trotzdem.» Dieser Spruch, der einem wohl jeden Morgen im Bad vor dem Spiegelschrank entschlüpfen könnte, illustriere wunderbar die Problematik, sagt Knellessen. Das Selbst wird hier als ein Abbild entlarvt, als ein Konstrukt, das einem mitunter auch etwas fremd vorkommen kann. Ähnlich verhält es sich, wenn wir eine Aufnahme unserer Stimme vorgespielt bekommen. «Wer spricht denn da, was ist denn das für einer!», lautet dann oft die Reaktion.

Das unfassbare Selbst

Je genauer wir das Selbst zu fassen versuchen, desto unheimlicher wird es, desto mehr entzieht es sich uns. Das hat Knellessen festgestellt, als ihm ein Freund von seinem neuen Fotografie-Projekt erzählte. Mithilfe neuer hochauflösender Kameras konnte dieser Porträts mit irrwitziger Schärfe produzieren: Jede Pore, jedes kleinste Detail konnte damit festgehalten werden. Als er seine Aufnahme dem Porträtierten zeigte, sei dieser geradewegs aus dem Studio gestürmt: «Das bin gar nicht ich!», so sein empörtes Verdikt.

Es ist also eine unsichere Sache mit dem Selbst, eine unheimliche, eine prekäre Angelegenheit. Ein bisschen Wagemut wird man schon brauchen, um dem «Erkenne dich selbst!» des Orakels Folge zu leisten. Das Projekt «Selbst / Portrait» dürfte das eigene Ich zwar nicht vollends ans Tageslicht bringen, aber allen Interessierten eine Vielzahl an Inputs und neuen Perspektiven bieten.