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Zürich
Maria Mehr (74), Macherin der Zigeunerkultur-Tage, über ihr Leben auf Achse.
Sie ist längst im Rentenalter — und noch immer die Chefin auf dem Platz. Vor gut 30 Jahren hat Maria Mehr die Zigeunerkultur-Tage in Zürich erfunden. Jetzt finden sie erstmals auf der Hardturmbrache statt. Und während wir uns im Schatten des Festzelts über Mehrs Leben unterhalten, kommen immer wieder Leute auf sie zu, um letzte organisatorische Fragen des heute beginnenden Festivals zu klären.
1985 gründete sie es. Sieben Jahre, nachdem der «Beobachter» ein dunkles Kapitel der Schweizer Geschichte publik gemacht hatte: Mit der Aktion «Kinder der Landstrasse» hatte die Vereinigung Pro Juventute mit Rückendeckung der Behörden jahrzehntelang den Fahrenden ihre Kinder weggenommen. Sie wurden weggesperrt, teils misshandelt und bei sesshaften Familien als Verdingkinder untergebracht.
Auch Maria Mehrs Geschwister und Cousine waren davon betroffen. Ihr Redefluss stockt, als wir darauf zu sprechen kommen. «Man sollte es auf sich beruhen lassen», sagt die 74-Jährige. Und redet dann doch darüber. «Wir mussten uns in den Wäldern verstecken. Der Vater hatte Angst. Was wir hatten, war die Liebe der Eltern.» Maria Mehr kam 1943 in Sursee zur Welt, als der Vater im Aktivdienst bei der Schweizer Armee diente. Die Jenische hat ihr ganzes Leben im Wohnwagen verbracht, zog durch alle Deutschschweizer Kantone, anfangs im Pferdewagen, jetzt mit dem Auto. «Ich bin überall gross geworden», sagt sie. «Das ist unsere Kultur. Mit unseren Leuten zu reisen, ist etwas Einmaliges. Ich will, solange es geht, im Wohnwagen bleiben.»
Von heute Mittwoch bis Sonntag finden auf der Stadionbrache Hardturm in Zürich die
Zigeunerkultur-Tage statt. Sie beginnen am Mittwochnachmittag mit einem Kinderkulturprogramm: Fahrende und Sesshafte spielen und musizieren zusammen. Ab 17 Uhr ist täglich buntes Markttreiben und traditionelles Handwerk angesagt, zudem Podiumsdiskussionen und eine Fotoausstellung. Abends ab 18 Uhr gibts Essen und Trinken, ab 20 Uhr Konzerte, mit den Bands Zéphyr Combo (Mi), Holub (Do), Seebass (Fr) und Ssassa (Sa). Zum Abschluss findet am Sonntag
ab 10 Uhr ein Brunch mit Musik statt: Counousse spielen Schwyzerörgeli in typisch jenischer Tradition. Der Eintritt ist frei. (mts)
Lange lebte sie vom Hausieren. Inzwischen ist sie Rentnerin, aber als Präsidentin der Genossenschaft fahrendes Zigeuner-Kultur-Zentrum ehrenamtlich weiterhin ständig auf Achse. Parallel zu den Zigeunerkultur-Tagen in Zürich ist die Genossenschaft auch in Winterthur präsent. Und wenn sie auf dem Hardturm-Areal das Festzelt abgebrochen haben wird, rollen die Wohnwagen weiter nach Schlieren, wo die Genossenschaft von Ende Juni bis Ende Juli der sesshaften Bevölkerung die Kultur der Fahrenden nahebringen will.
Ab 1978 habe sich die Situation ihres Völkchens in der Schweiz verbessert, sagt Mehr. Anfangs habe sich ihre Familie zwar immer noch versteckt: «Die Angst war zu gross.» Doch allmählich liess sie nach, und die Jenischen fassten neuen Mut. «Wir wollten uns nicht mehr verstecken, sondern der Bevölkerung zeigen, dass es uns auch noch gibt», erklärt Mehr die Gründung der Zigeuner-Kulturtage. 30 Jahre lang fanden diese auf dem Schütze-Areal beim Escher-Wyss-Platz statt. Nun wird dort gebaut, und das Festival brauchte eine neue Bleibe.
Die Grüne Gemeinderätin Katharina Prelicz-Huber, die das Festival von Anfang an unterstützt hat, half im Kontakt mit den Stadtbehörden, das Hardturm-Areal zu bekommen. Zumindest vorübergehend. Wenn dort das geplante neue Fussballstadion gebaut wird, sollen die Zigeunerkultur-Tage wieder weiterziehen, voraussichtlich aufs Albisgüetli. Doch Mehr hofft, auch nächstes Jahr nochmals auf der Hardturmbrache das Festzelt aufstellen und die Wohnwagen parkieren zu können.
Es ist das alte Lied: Die Fahrenden brauchen Standplätze. Nicht nur für ihr Festival. Laut Mehr ist der Bedarf an Standplätzen in den letzten Jahren gestiegen, weil sich nach den traumatischen Erfahrungen der Älteren die jüngere Generation vermehrt wieder zur Kultur der Fahrenden bekennt. Während sie bei der Bevölkerung häufig auf Offenheit stosse, würden die Behörden oft hohe Auflagen bei Standplatz-Gesuchen machen, sagt Mehr. Und windet sogleich einigen positiven Beispielen ein Kränzchen: Winterthur sei sehr offen, ebenso Adliswil, wo Maria Mehr und ihre Leute ihr Winterquartier haben. Von Frühling bis Herbst ist sie dann jeweils wieder quer durchs Land unterwegs, um für die Kultur der Fahrenden zu werben.