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Albert Wettstein, ehemals Stadtarzt von Zürich, zeigt Wege zum Umgang mit alten Menschen in der Corona-Krise. "Soziale Kontakte sind ganz wichtig, auch wenn man sich dabei nicht persönlich trifft", sagt er. Und gibt praktische Tipps für den Alltag.
Der 73-jährige Albert Wettstein war bis 2011 Chefarzt des Stadtärztlichen Diensts in Zürich. Als Vertreter der Unabhängigen Beschwerdestelle für das Alter hat er jetzt eine Lösung gefunden, wie Alters- und Pflegeheimbewohner trotz Corona-Virus ihre Angehörigen treffen können. Im Interview sagt er, wie auch sonst die sozialen Kontakte und die Gesundheit zu erhalten sind.
Albert Wettstein: Es ist eine unglaubliche Entwicklung in kurzer Zeit, für die Gesellschaft und für mich. Persönlich erlebe ich vor allem einen schmerzlichen Einschnitt: Ich vermisse die Begegnungen mit meinen Enkeln. Morgen wird einer von ihnen Geburtstag feiern. Wir werden bis in seinen Garten gehen, Happy Birthday singen und unsere Geschenke in den Garten legen. Er wird uns vom Balkon aus zusehen und wir werden einander zuwinken und uns etwas auf Distanz unterhalten.
Ich gehe viel spazieren mit meiner Partnerin. Wir achten darauf, mindestens zwei Meter Abstand zu anderen Leuten zu halten. Hausarrest in Städten mag sinnvoll sein. Ich würde auch nicht empfehlen, jetzt in Zürich bei Sonnenschein an der Seepromenade spazieren zu gehen, wo sich viele Leute begegnen. Besser ist es, im Wald, auf Feldwegen oder in ruhigen Quartierstrassen zu spazieren. Und wenn man Frau Meier trifft, sollte man aus der nötigen Distanz Grüezi winken.
Ich habe von jemandem gehört, der chronisch krank ist und gar nicht mehr aus dem Haus geht. Junge Leute kaufen für ihn ein und legen die Einkäufe vor die Türe. Man sollte keine Hemmungen haben, solche Nachbarschaftshilfe zu nutzen.
Hmm. Je älter die Leute sind, um so grösser sind die Komplikationen bei einer Infektion, vor allem bedingt durch chronische Krankheiten, die im Alter häufiger sind. Aber wenn man regelmässig laufen geht, hat man mehr Reserven. Wenn jemand fit und vital ist, kann er noch selber einkaufen. Aber wie gesagt: Man sollte keine Hemmungen haben, sich helfen zu lassen. Im Zweifelsfall gilt für Hochbetagte: Lasst andere für euch einkaufen.
Telefonieren. Soziale Kontakte sind ganz wichtig, auch wenn man sich dabei nicht persönlich trifft. Ruft eure Tanten und Grosseltern an, legt mal ein Geschenk vor die Tür, aber geht nicht rein! Studien zeigen: Soziale Kontakte sind der wichtigste gesundheitsfördernde Faktor. Man kann auch schreiben, wie mein Enkel, der mir kürzlich einen Brief schrieb. Oder Blumen pflücken und vor die Tür legen.
Das ist im Allgemeinen sicher nicht förderlich, auch wenn es wegen des Corona-Virus derzeit nötig ist. Eine Lösung, die ich empfehle, lautet: Man kann im Alters- oder Pflegeheim anrufen und das Personal ersuchen: «Bringen Sie bitte meinen Angehörigen an die Tür, dann gehe ich draussen mit ihm spazieren.»
Voraussetzung ist, dass man weder Corona-Virus-Träger ist noch mit solchen Kontakt hatte in den letzten 14 Tagen; und dass man im gleichen Zeitraum weder selber Husten- oder Fiebersymptome hatte noch mit Menschen mit solchen Symptomen in nahem Kontakt war; und dass man auch nicht mit Kindern in Kontakt war, die solche Symptome hatten. Als Vertreter der Unabhängigen Beschwerdestelle für das Alter habe ich ein entsprechendes Selbstdeklarations-Formular erarbeitet, das nun von der Stadt Zürich abgesegnet ist und heute an die Alters- und Pflegeheime geht. Aufs Küssen und Umarmen muss man aber auch bei solchen Treffen verzichten – und natürlich die Hände gut waschen oder desinfizieren. Das Risiko ist mit dieser Lösung nicht gleich null, aber der Nutzen ist grösser als das Risiko.
Alles Schlimme hat auch seine positiven Seiten. Man kann jetzt endlich mal die Fotos sortieren, die schon lange in einer Kiste liegen. Oder den Frühlingsputz machen. Und merkt: Ich kann meine Zeit sinnvoll verbringen, auch ohne in die Beiz oder auf Shoppingtour zu gehen oder meine Enkel zu sehen.