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Limmattal
Verena Rothenbühler und Bruno Meier haben die Geschichte Schlierens vor der Industrialisierung aufgearbeitet. Möglich war das nur dank dem Vermächtnis der Schlieremer Historikerin Ursula Fortuna.
Zum Glück gabs die Fortuna – Ursula Fortuna, um genau zu sein. Die 2011 verstorbene Schlieremer Historikerin vermachte der Nachwelt nicht nur einen umfangreichen wissenschaftlichen Nachlass, der sich vor allem um die Geschichte ihres Wohnorts drehte. Die Alleinstehende, die nach dem Zweiten Weltkrieg von Köln nach Schlieren zog, hinterliess auch knapp eine Viertelmillion Franken, die dafür aufgewendet werden sollten, «die Geschichte der Gemeinde Schlieren durch kompetente Historiker» erforschen zu lassen.
Fündig wurde das Zürcher Staatsarchiv, das mit dem Legat betraut wurde, in Bruno Meier und Verena Rothenbühler. Die beiden waren ziemlich frei darin, wie sie die Hinterlassenschaft genau aufarbeiten sollen. «Das war eine schöne Chance, mal etwas anderes zu machen als eine herkömmliche, umfassende Ortsgeschichte», sagt Rothenbühler, die bereits an der Ortsgeschichte Dietikons mitgewirkt hatte.
Die Historikerin hatte Fortuna, die viel Zeit im Zürcher Staatsarchiv verbracht hatte, schon als junge Studentin kennen gelernt – wenn auch nicht gerade in einer Begegnung der erfreulichen Art: Sie hatte sich nichtsahnend auf den Platz gesetzt, der Eingeweihten längst als «Fortunas Platz» bekannt war. «Darauf hat sie nicht gut reagiert», erinnert sich Rothenbühler lachend.
Das Buch «Geschichten aus dem Alltag» nimmt die Jahre 1750 bis 1914 unter die Lupe – «eine Zeitspanne, die Ursula Fortuna zugesagt hätte», so Rothenbühler. Es ist zudem eine Zeit, die in der Schlieremer Geschichtsschreibung weniger gut aufgearbeitet ist als etwa die spektakulärere Epoche der Industrialisierung der Stadt. Auch deren Anfänge sind zwar Teil der aktuellen Untersuchung, allerdings eher im Zusammenhang mit der Frage, wieso die Unternehmen sich erst so spät in Schlieren niederliessen.
Die Situation Schlierens zur Zeit, in der das Buch ansetzt, war eine aussergewöhnliche: Das Dorf war gleichzeitig der Grafschaft Baden, dem Kloster Wettingen und dem Stadtstaat Zürich unterstellt. Die Gerichtsherren kamen vom der Grafschaft angehörigen Kloster, das auch Land und Höfe in Schlieren besass. Aber auch Zürich hatte grossen Einfluss auf das 1750 erst rund 400 Einwohner zählende Bauerndorf. Schlieren war schon 1511 zur eigenständigen, 1531 dann zur reformierten Kirchgemeinde geworden; den Pfarrer setzte das Spital Zürich ein, das dadurch auch über das Armen- und Schulwesen sowie seinerseits über verschiedene landwirtschaftliche Güter verfügte.
Verena Rothenbühler Autorin, Historikerin
Die Gerichtsherrschaft durch das Kloster Wettingen wurde zudem lasch ausgeführt: Als «Laissez-faire» beschreiben Meier und Rothenbühler die Beziehungen zwischen dem reformierten Dorf und der katholischen Obrigkeit. Wirtschaftlich profitiert von Schlieren haben damals sowohl Spital als auch Kloster, obschon Zürich mit dem Besitz der Mühle und damit der Kontrolle über die Wasserversorgung mächtiger war.
Die geteilte Herrschaft über das Dorf ist auch der Grund dafür, dass die Autoren ihre Quellen in den Staatsarchiven Zürich und Aargau sowie dem Schlieremer Stadtarchiv zusammensuchen mussten. Ihr Ziel: aus den häufig trockenen, aus reinen Zahlen- und Namenslisten bestehenden Quellen Informationen über das alltägliche Leben der damaligen Schlieremer herauszufiltern.
Meier, der in Baden den Verlag Hier und Jetzt mitgegründet hatte, in dem das Buch nun erscheint, hat der ausgewählte Zeitabschnitt vor allem auch deshalb gereizt, weil in ihm auf den ersten Blick weitgehend «nichts passiert» – er wollte das Bild eines «stagnierenden Dorfs» genauer untersuchen. Die Wohnbevölkerung blieb im Schlieren des 18. und 19. Jahrhunderts über viele Jahrzehnte hinweg mehr oder weniger stabil, Zu- und Weggänge gab es wenige, und wenn ein Bauernhaus niederbrannte, was immer wieder vorkam, wurde es auch mal einfach nicht ersetzt.
Auch nachdem Schlieren nach der kurzen und turbulenten Zeit der Helvetischen Republik 1803 offiziell dem Kanton Zürich zugeschlagen wurde, dürften die wenigsten Einwohner in ihrem alltäglichen Leben viel von den politischen Umbrüchen gespürt haben. Von den andernorts langsam einsetzenden Innovationen in Landwirtschaft und Industrie konnte das Dorf ebenfalls noch lange nicht profitieren.
Die Schlieremer – fast ausschliesslich selbstversorgende Bauern, einige Taglöhner und wenige Heimarbeiter – waren noch in den wenig flexiblen Gefügen der Zehnten- und der Grundzinsabgabe gefangen, von denen sich zu lösen fast das ganze 19. Jahrhundert in Anspruch nahm. Eine Folge dieser Reformen war eine Umwandlung der Zinsen in Schulden, aufgrund derer viele Bauern auch nach dem Loskauf nicht bedeutend grösseren Handlungsspielraum hatten.
Was die Schlieremer nach dem Übergang zu Zürich jedoch bemerkten, war die stärkere Hand des neuen Herrn im Gegensatz zum alten. Der neue Kanton Zürich intervenierte besonders im Schul- und Armenwesen, was in der Gemeinde immer wieder für Momente des Aufbegehrens sorgte. Manchmal nahm das absurde Züge an, etwa als die Schlieremer aus dem eigentlich unbestritten nötigen Bau eines neuen Schulhauses einen nicht enden wollenden Schildbürgerstreich machten. Das neue Handwerk der Demokratie mussten zwar die meisten Gemeinden erst noch lernen. «Doch das Widerstandspotenzial von Schlieren war schon beachtlich», sagt Rothenbühler.
Bruno Meier Autor, Verleger, Historiker
Keinen Widerstand leisteten die Schlieremer allerdings, als die Verkehrswege ausgebaut wurden. Während sich diverse Gemeinden gegen den Bau der 1847 eröffneten Spanisch-Brötli-Bahn auf ihrem Gebiet vehement gewehrt hatten, stellte Schlieren sogar Land kostenlos zur Verfügung, um eine eigene Haltestelle zu bekommen.
Schlieren hatte damals noch keine eigene Industrie, und die Einwohner, die etwa in der Baumwollspinnerei Bebié in Oberengstringen, der Färberei in Dietikon oder in einem Betrieb in der Stadt Zürich arbeiteten, mussten nach langen Tagen in der Fabrik lange Fusswege auf sich nehmen. Zudem ahnten die Schlieremer, dass eine eigene Haltestelle auch ein Standortargument für Fabrikanten auf der Suche nach Land werden könnte. Damit lagen sie nicht falsch.
Noch mehr als fehlende Verkehrswege war einer frühen Industrialisierung Schlierens aber die Limmat im Weg. Bis deren Lauf nach 1890 nach langjähriger Arbeit korrigiert war, konnte Schlieren ihr Potenzial kaum nutzen. «Schlieren hatte einfach Pech: Es lag auf der falschen Seite des Flusses», sagt Meier. Das Schlieremer Land rund um die Limmat neigte zu grossflächigen Überschwemmungen und eignete sich nicht für eine Kanalabzweigung. Und anders als das ebenfalls linksufrige Dietikon hatte Schlieren kein kleineres Gewässer, dem genug Wasser und Wasserkraft für eine industrielle Nutzung entzogen werden konnte – ein Dorfbach ist eben noch längst keine Reppisch.
So war es letztlich massgeblich das Aufkommen der Elektrizität Ende des 19. Jahrhunderts, das den Knoten löste – und Schlieren einen umso heftigeren Einstieg ins Industriezeitalter bescherte. Eingeläutet hatte dieses Heinrich Glättli, der im Jahr 1869 seine Leimfabrik – später die Geistlich – vom Vorort Riesbach (der heutige Stadtzürcher Kreis 8) nach Schlieren verlegte. Für Glättli war es gerade der Umstand, dass es in Schlieren trotz relativer Nähe zur und einem Bahnanschluss an die Stadt Zürich noch viel billiges und vom Siedlungsgebiet abgelegenes Land gab. Denn in Riesbach war der Fabrik aufgrund des Gestanks keine langfristige Zukunft beschieden.
Ein weiteres stinkendes Geschäft lehnten die Schlieremer fünf Jahre darauf allerdings ab, auch weil man ihnen bei der Planung keinen reinen Wein eingeschenkt hatte: Über den Mittelmann Caspar Fürst versuchte die Stadt Zürich damals, ihr Abwasser auf Schlieremer Boden mittels sogenannter Feldberieslung loszuwerden. Der Landkauf war schon vorbereitet, als die wahren Pläne aufflogen und Schlieren sich erfolgreich dagegen wehrte, dass bei ihnen die Jauche der Stadtzürcher auf den Feldern verteilt wird.
Richtig auf den Industrialisierungszug sprang Schlieren aber erst mit den Ansiedlungen der «Wagi» und der «Gasi» auf, deren Vorläufer in den Jahren 1895 und 1898 den Betrieb aufnahmen. Nun explodierten die Einwohnerzahlen: Zwischen 1900 und 1910 wuchs die Bevölkerung um rund 1000 auf 2675 Einwohner an. Neue Siedlungen mussten für die Arbeiter gebaut werden, im Dorf entstanden neue Wirtschaften und Geschäfte, auch weitere, kleinere Industriebetriebe zogen nach. Das zunehmende Bedürfnis nach Mobilität wurde ab 1900 auch vom «Lisebethli», der Limmattaler Strassenbahn abgedeckt, deren Wägen aus den Produktionshallen im Osten des Dorfs stammten.
Die Buchvernissage findet am Donnerstag um 19 Uhr in der Bibliothek Schlieren statt.
Mit den neuen Einwohnern kamen auch neue Vereine ins Dorf, das zuvor nur Männer- und Töchterchor, Schützen- und Turnverein sowie die Mittwochsgesellschaft kannte. Verschiedene politische, konfessionelle und kulturelle Vereine wurden gegründet, um der diverser gewordenen Einwohnerschaft gerecht zu werden.
Die Kontakte zwischen dem alten und dem neuen Schlieren blieben in diesen Zeiten des Aufbruchs aber beschränkt. Die fremde Herkunft und die langen Arbeitszeiten der Fabrikarbeiter sowie die vom Dorfkern abgelegenen Siedlungen sorgten für soziale Trenngräben. Zahlenmässig hatten die neuen Einwohner die alten nun überflügelt: 1910 waren rund acht Mal so viele Personen in Industrie, Handel und Gewerbe tätig wie in der Landwirtschaft. Aus dem behäbigen Bauerndorf im Vakuum zwischen den Herrschaftsgebieten war nun endgültig ein lebhafter Industrieort vor den Toren Zürichs geworden.