Schlieren
Hier geht die Welt unter: Lukas Sander verwandelt das Industriequartier zur Theaterbühne

Der Deutsche Künstler Lukas Sander holt das Theater Gessnerallee von der Zürcher Innenstadt ins Schlieremer Industriegebiet: Sein neues Werk «RECCE 8952» stellt den Auftakt in die neue Saison dar.

Alex Rudolf
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Dramaturgin Rahel Kesselring läuft die Route der interaktiven Walkingtour in Schlieren ab. Bild: Severin Bigler

Dramaturgin Rahel Kesselring läuft die Route der interaktiven Walkingtour in Schlieren ab. Bild: Severin Bigler

Limmattaler Zeitung

Stellen Sie sich vor: Bei der Tramhaltestelle Gasometerbrücke in Schlieren gleich neben der Tamoil-Tankstelle entdecken Sie ein Tablet mit Kopfhörern. Auf der darauf enthaltenen Film-Datei hat es ein Video, auf dem die Tramhaltestelle, die Tankstelle und die Gasometerbrücke zu sehen sind. Es erklingt die Stimme einer jungen Frau, die laut nachdenkt. Offenbar sucht sie in Schlieren Drehorte für einen Weltuntergangsfilm. Mit dem Tablet in der Hand machen Sie sich auf den Weg über die Bahngleise, immer der Stimme nach.

Dies ist die Ausgangslage der Inszenierung «RECCE 8952», die der deutsche Künstler Lukas Sander gemeinsam mit der Dramaturgin Rahel Kesselring und dem Soundkünstler Christian Berkes für das Zürcher Theater Gessnerallee entwickelt hat. An diesem Wochenende feiert die Gessnerallee ihren Auftakt in die neue Saison und Sanders Theaterrundgang Premiere.

Ein sphärischer Unort

Hier könnte jene Szene mit den vier Autos gedreht werden und dort die andere, lässt die Erzählerin ihren Gedanken freien Lauf. Die Aussicht von der Gasometerbrücke geht in Richtung Zürich mit den Hochhäusern, dann auf die Schlieremer Industrie und den Bio-Technopark. Selbst jenen, die die Gegend gut kennen, dürfte durch die ruhige Kameraführung viel Neues auffallen. Anfänglich weist ein unscheinbares Pixel-Flackern – später sind es Veränderungen im Farbton und lautes Wummern – darauf hin, dass hier mehr geschieht als gedacht. Der Weg führt entlang überwachsener Bahngleise und leeren Autogaragen in Richtung Westen.

Solche Orte wie das Schlieremer Industriegebiet haben es Sander angetan, sagt er gegenüber der «Limmattaler Zeitung». Bereits vor drei Jahren machte er, ebenfalls für das Theater Gessnerallee, eine Inszenierung im stillgelegten Gasometer. Besucher durften damals das Innere des Bauwerks erkunden, das Sander in einen sphärischen Unort verwandelte.

Die Welt wird zusehends leer

«Während meines Gasometer-Projekts lernte ich diese Gegend nördlich der Bahngleise kennen und war fasziniert davon», sagt Sander. So habe ihn die Stimmung mit der Industrie und der Menschenleere an einige unheimliche Filme erinnert, was ihn auf die Idee brachte, einen sogenannten Location Scout in den Mittelpunkt des Projekts zu stellen.

Ist die Filmemacherin etwa nicht mehr nur auf der Suche nach Drehorten, sondern wird selbst Teil der Geschichte? Sie erzählt, wie plötzlich alle Menschen auf einen Schlag verschwinden. Mysteriöserweise bleiben nur Hüftgelenke und Herzschrittmacher übrig, die Haustiere dringen nach draussen und sorgen für sich selbst. Ist die Erzählerin der letzte Mensch auf Erden? Oder sind wir es, die «RECCE 8952» absolvieren? Die Welt wird zusehends leer. Das Industriequartier wird zur Theaterbühne.

Endzeitstimmung vor den Toren Zürichs

Es bietet hierfür die perfekte Szenerie, da es an Wochenenden ohnehin wenig bevölkert ist. Mit kleinen Eingriffen entlang des Weges, die hier nicht verraten werden sollen, schafft es Sander, dass man in eine Endzeit-Erzählung versinkt, die sich vor den Toren Zürichs abspielt. Realität und Film vermischen sich.

Die Dramaturgin des Projekts, Rahel Kesselring, sagt, dass man durchaus Bedenken gehabt habe: «Den Untergang der Welt inmitten einer weltweiten Pandemie zu thematisieren, erschien uns gewagt. Zumal man Anfang Jahr noch nicht abschätzen konnte, wie man mit Covid-19 umgehen wird.» Eigentlich hätte das Projekt bereits im Frühjahr durchgeführt werden sollen. Da das soziale Leben heute wieder – wenn auch in eingeschränkter Form – stattfinden könne, sei nun der richtige Zeitpunkt für eine solche Inszenierung.

Interaktive Walking-Tour

«RECCE 8952» findet an den nächsten drei Wochenenden zwischen 15.00 und 18.45 Uhr statt. Der Rundgang, der etwa eine Stunde dauert, kann nur allein absolviert werden, er ist nicht rollstuhlgängig. Tickets gibt es unter www.gessnerallee.ch.