Weiningen
Das Limmattal ist im Temporausch

1947 bewegt ein Motorradrennen in Weiningen die Massen – auch ein tragischer Zwischenfall kann das Fest nicht stoppen.

Sandro Zimmerli
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Dario Ambrosini, (hier auf einer Aufnahme von 1949) ist einer der grossen italienischen Stars, die in Weiningen an den Start gehen. 1950 wird er Weltmeister in der 250-ccm-Klasse.

Dario Ambrosini, (hier auf einer Aufnahme von 1949) ist einer der grossen italienischen Stars, die in Weiningen an den Start gehen. 1950 wird er Weltmeister in der 250-ccm-Klasse.

Paul Fearn/ Alamy Stock Photo

Auf 200 km/h will er sein Motorrad beschleunigen. Das gibt Omobono Tenni kurz vor dem Start dem Rennleiter zu Protokoll. Schaffen will er das Kunststück auf der Strecke zwischen Weiningen und Geroldswil. Den Worten folgen Taten. Mit einem Stundenmittel von annähernd 120,5 km/h absolviert Tenni den 74,24 Kilometer langen Rundkurs. Auf der Geraden holt er das Maximum aus seiner 500-ccm-Maschine, jagt den Tacho an die 200er-Marke. Das Publikum ist begeistert. Und auch der Reporter der NZZ stimmt zur Lobeshymne an: «Wie der ‹geölte Blitz› sauste die rote Maschine über die Strecke, alle andern Konkurrenten weit hinter sich lassend. Er sass auf seiner Zweizylinder-Guzzi, als ob er selbst ein Teil der Maschine wäre.»

Der 1905 geborene Tenni ist ein Motorradstar. 1937 wird er Europameister in der 250-ccm-Klasse. Zehn Jahre später wiederholt der Italiener dieses Kunststück in der 500-ccm-Klasse. Und so steht er als frischgebackener Champion zusammen mit weiteren Spitzenfahrern aus dem In- und Ausland und der Schweizer Elite an diesem 10. August 1947, einem Sonntag, am Start des ersten Zürcher Motorrad- und Seitenwagenrundstreckenrennens in Weiningen. Eingeladen vom Velo- und Motoclub Industriequartier Zürich, der seinen 50. Geburtstag begeht.

Zielstandort gibt zu reden

Das Rennen findet nicht zufällig auf einer Rundstrecke zwischen Weiningen, Geroldswil und der Fahrweid statt. Das Gelände bietet einige Vorzüge. Vor allem die Staatsstrasse zwischen Weiningen und Geroldswil hat es den Organisatoren, aber auch den Berichterstattern angetan. «Besonders auf der Staatsstrasse gegen Geroldswil wurde das Tempo enorm gesteigert, aber auch am Ziel flitzten die Fahrer nur so vorbei», heisst es etwa im Limmattaler Tagblatt. Und in der NZZ wird das geschickte Ausnutzen der Topografie seitens der Organisatoren gelobt: «Die steilen Wiesenborde an der Aussenseite der 4,46 Kilometer langen Rundstrecke bildeten natürliche Tribünen für das zahlreich aufmarschierende Publikum.» Allerdings kann der Reporter mit der Wahl des Zielgeländes wenig anfangen. «Immerhin ist zu sagen, dass das Ziel und somit auch die Zuschauertribüne am Ziel am falschen Ort placiert wurden. Den Standort hätte man unbedingt oben an der Staatsstrasse wählen sollen und nicht am schmalsten Strassenstück, das von der Fahrweid nach Weiningen hinaufführt. Zudem wurden die Tribünen in der leichten Linkskurve viel zu nahe an die Piste gebaut.»

Dennoch sind sie voll besetzt. Ein nummerierter Platz auf der Tribüne kostet 8.80 Franken, ein Stehplatz 3.30. Der Eintritt für das Training tags zuvor ist für 1.10 Franken zu haben. Dort werden die Zuschauer Zeugen eines schweren Zwischenfalls. Nach einem Sturz stirbt der St. Galler Edi Keussen noch auf der Unfallstelle. Das Unglück ereignet sich in der zweiten Runde des Trainings. Bereits in der Vorrunde fällt Keussen durch eine unsichere Fahrweise auf. Offenbar ist etwas mit seiner Maschine, einer 750-ccm-Norton, nicht in Ordnung. Immer wieder geht sein Blick auf der rechten Seite nach unten. Irgendwo ist ein Leck. Öl entweicht. Dann folgt der fatale Augenblick. «In der Unglücksrunde kam Keussen verhältnismässig langsam ins Gefälle und gegen die leichte Linkskurve vor der kleinen Kiesgrube, wo er hart der Bretterwand entlang strich», heisst es in der NZZ. Plötzlich berührt Keussen die Wand mit seinem Fuss, verliert die Kontrolle über sein Fahrzeug und versucht sich mit einem Absprung zu retten. «Unglücklicherweise landete sein Hechtsprung nach einer etwa sechs Meter langen Rutschpartie an einem Eisenpfosten, der ihm den Kopf vom Rumpf trennte», notiert der NZZ-Journalist weiter.

Kein Vorwurf an Organisatoren

Weshalb Keussen die Bretterwand touchiert, bleibt ungeklärt. Möglicherweise ist er auf dem ölverschmierten Fussraster abgerutscht und ist deshalb mit seinem Fuss in Kontakt mit der Wand gekommen. Die Unfallstelle gilt unter den Fahrern als ungefährliche Passage. Und auch den Organisatoren wird kein Fehlverhalten nachgewiesen, wie es im Limmattaler Tagblatt heisst: «Die sofort eingeleitete amtliche Untersuchung hat ein absolutes Funktionieren des Absperrdienstes festgestellt.»

Trotz dieses tragischen Schicksals geht das Spektakel weiter. Die Zuschauer strömen in Massen nach Weiningen. Der Pressechef gibt zu Protokoll, dass sich 27 000 Besucher rund um die Strecke postiert haben. Angereist sind sie mit Hunderten von Autos, Motorrädern und Velos, die das Weinbaudorf verstopfen. Viele kommen auch mit den öffentlichen Verkehrsmitteln. Zwischen dem Hauptbahnhof, Höngg und Weiningen verkehren Tram und Bus öfters als an einem Wochenende üblich. Der Anlass wird ein voller Erfolg. Das weiss auch die NZZ lobend zu erwähnen: «Nach Ansicht kompetenter Fachleute übertraf das Zürcher Rundstreckenrennen an rassigen und schönen Kampfmomenten sogar den diesjährigen Grand Prix in Bern.» Das Limmattal ist endgültig im Motorsportfieber.

Davon zeugt auch der Besucheraufmarsch zwei Jahre später in Urdorf. Geschätzte 15 000 Zuschauer wohnen dem vom Motorsport-Club «Züri» organisierten ersten Urdorfer Dreiecksrennen bei. Es findet auf einem Kurs statt, der als schwierig gilt und deswegen nicht überall auf Gegenliebe stösst, wie aus der Berichterstattung zu erfahren ist. «Schmale nicht auf der ganzen Linie gut erhaltene Strassen und ausgesprochen heikle Kurven, besonders jene in Oberurdorf, trotzen jeglichem Versuch zur Tempoforcierung, zur vollen Ausnützung der in den modernen Maschinen steckenden Geschwindigkeit», heisst es in der NZZ. Trotz all der Kritik wird auch dieser Motorsportanlass zu Fest.

Bald ist jedoch Schluss. 1955 sterben bei einem Unfall des Franzosen Pierre Levegh am 24-Stunden-Rennen von Le Mans 84 Menschen. Mit 260 km/h donnert er nach einer Kollision in die Abschrankung vor der grossen Tribüne und wird in die Luft geschleudert. Seinen Wagen zerreisst es, die Trümmer fliegen in die Zuschauerränge und richten ein Blutbad an. Kurz darauf werden in der Schweiz öffentliche Rundstreckenrennen für Motorfahrzeuge verboten. Bis heute hat sich daran nichts geändert. Omobono Tenni erlebt all die Debatten um das Schweizer Strassenverkehrsgesetz nicht mehr. Am 1. Juli 1948 verunglückte er beim Training zum Grossen Preis der Schweiz auf der Bremgarten-Rundstrecke in Bern tödlich.