Dietikon
Dank neuer Strategie erobert die Natur den Dietiker Siedlungsraum zurück

Als Thomas Winter den Dietiker Stadtrat in den 1980er-Jahren zum ersten Mal auf eine Exkursion durch das Siedlungsgebiet mitnahm, schaffte er es noch nicht, ihn für die Förderung der städtischen Biodiversität zu gewinnen.

Sophie Rüesch
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Nachhaltiges Bepflanzen kann durchaus auch gepflegt daherkommen: einheimische Pflanzen vor dem Dietiker Bezirksgebäude. rue

Nachhaltiges Bepflanzen kann durchaus auch gepflegt daherkommen: einheimische Pflanzen vor dem Dietiker Bezirksgebäude. rue

Damals zählte Dietikon noch keine 25 000 Einwohner und der Baukran dominierte das Stadtbild noch nicht so umfänglich, wie er es heute tut. Doch schon damals war für den Ökologen Winter klar: Soll die Stadt für Menschen lebenswert bleiben, muss der zunehmenden Verdrängung der wilden Natur darin Einhalt geboten werden.

Rund 30 Jahre später stiess er einem neu bestellten Gremium auf offenere Ohren. Bei einem gemeinsamen Spaziergang entlang der Reppisch leuchtete es den Exekutivmitgliedern ein: Hier kann mit wenig Aufwand viel für die Umwelt getan werden. Im letzten Herbst wurde das Resultat dieser Einsicht präsentiert: der Leitfaden zur Förderung der Biodiversität in der Stadt Dietikon.

Gefordert hatte es der grüne Stadtrat Samuel Spahn in einem Postulat bereits 2009. Nun ist es endlich so weit: Fortan erfolgen die Pflege der städtischen Liegenschaften und die Planung von öffentlichen Bauten und Anlagen nach den vom Stadtplanungsamt verfassten Richtlinien, die auf die Förderung der heimischen Tier- und Pflanzenvielfalt abzielen. Dabei ist weniger mehr: Die Natur soll auf ausgewählten Flächen wieder mehr sich selber überlassen werden, auf künstliche Bewässerung und Dünger soll möglichst verzichtet werden.

Private müssen mit anpacken

Damit verfolgt Dietikon die richtige Strategie, ist Winter, der vor 40 Jahren die Stiftung Wirtschaft und Ökologie ins Leben rief, überzeugt: «Die Stadt nimmt damit ihre Vorbildfunktion wahr. Gartenbesitzer orientieren sich immer auch daran, was sie im öffentlichen Raum sehen.» Denn die Stadt kann das Ökosystem Kleinstadt nicht im Alleingang wieder aufpäppeln. Dafür müssen auch die Privaten mit anpacken: Architekten und Arealentwickler mit einer genügenden Ausscheidung artenreicher Grünflächen und innovativer Bauweise wie etwa der Begrünung von Flachdächern, Hauseigentümer mit einer umweltbewussten Bewirtschaftung ihrer Gärten. «Man kann im eigenen Garten viel für ein gesundes Ökosystem tun. Man muss nur wissen wie», sagt Winter.

Auch Tobias Liechti vom Büro für Umweltplanung creato spricht von einem «progressiven Ansatz» der Stadt. Er vermutet sogar, dass die Umstellung auf naturbelassene öffentliche Flächen bereits eine erste Wirkung zeigt. So haben sich gerade vier neue Dohlen zum seit einigen Jahren in Dietikon wohnhaften Brutpaar gesellt. Dohlen sind selten; die sechs hiesigen Exemplare sind die einzigen bekannten zwischen Baden und Zürich. «Dohlen essen grosse Insekten. In einer Asphaltwüste würden sie diese nicht finden», so Liechti.

Die grossflächige Versieglung des Bodens ist die grösste Herausforderung für die Natur im Siedlungsraum: Wo geteert wird, wächst kein Kraut. Zudem gelangt durch die Asphaltierung eine Vielzahl an Giftstoffen in den Boden. «Das Problem ist, dass man diese nicht sieht», sagt Winter. «Ich bin mir sicher: Wären die Schadstoffe sichtbar, würden sich Konsumenten und Politik nicht so schwertun mit dem Umweltschutz.» Durch die Versieglung und den Einsatz fremder, pflegeleichterer Pflanzen werden für das einheimische Biosystem wichtige Organismen verdrängt – mit weitreichenden Folgen.

Rattenschwanz an Konsequenzen

Denn jedes Glied hat im Ökosystem seine Rolle; wird eines verdrängt, hat das Auswirkungen auf Pflanzen, Tiere und Organismen rundherum. Winter zieht als Beispiel eines solchen ökosystemischen Rattenschwanzes das Glühwürmchen heran: Mit der zunehmenden Düngung der Böden wurden immer mehr Nacktschnecken angezogen, die das grossflächige Auslegen von Schneckenkörnern auslösten, womit den Larven der Glühwürmchen die Nahrungsgrundlage entzogen wurde.

Überlebt eines das Larvenstadium trotzdem, wird ihm durch das Abmähen von Wiesensäumen, in denen die Weibchen Schutz suchen, die Paarung erschwert; dazu kommt, dass bereits die Strassenlaternen für reichlich Verwirrung bei den Männchen auf der Suche nach einem leuchtenden Weibchen sorgen. Viele verenden so, ohne ihre Herzdame gefunden zu haben, die mit den Halogenleuchten nicht mithalten kann.

«Es braucht ein Umdenken», sagt Winter, «wir müssen weg vom Ordnungsgedanken.» Wertvoll sei nicht, was rechteckig und sauber ist, sondern, was das Ökosystem für die kommenden Generationen erhalten kann. Paradoxerweise biete dabei gerade das Siedlungsgebiet viel Potenzial: Hier können Schäden, die der Boden in der Landwirtschaft erleidet, kompensiert werden. «Viele Umweltsünden sind nicht mehr umkehrbar», so Winter. «Doch wo wir noch können, müssen wir handeln.» Für ihn heisst das auch: Wissen erhalten und weitergeben, vor allem an den Schulen. «Sonst wachsen unsere Kinder in falschen Strukturen auf.»

Thomas Winter referiert heute an einer öffentlichen Informationsveranstaltung über Biodiversität im städtischen Raum: 19 bis 20.30 Uhr im Stadthaus (Gemeinderatssaal)

Laut Tobias Liechti eine vorbildliche Bepflanzung - Birnbäume und Osterglocken vor dem Bezirksgebäude
9 Bilder
Schon nur ein Kiesplatz gibt der Natur mehr Spielraum als Asphalt
In einer Stadt gibt es viele Flächen, die man umweltgerechter bepflanzen kann
Natur muss nicht gleich Verwilderung bedeuten - ein vorbildlicher Naturgarten (zvg)
Eine der sechs Dietiker Dohlen vor einem der Brutkästen, die Tobias Liechti bei der Katholischen Kirche installierte
Auch auf dem Dach der St. Agatha
Flachdachbegrünung in Effretikon (zvg)
Auch im eigenen Garten kann man mit wenig Aufwand für die nötige Biodiversität sorgen
An diesem Hang hinter dem Bahnhof befindet sich zurzeit noch eine Fettwiese - der Ort wäre für eine Magerwiese ideal, so Liechti

Laut Tobias Liechti eine vorbildliche Bepflanzung - Birnbäume und Osterglocken vor dem Bezirksgebäude

Sophie Rüesch, ZVG