Dietikon
Bühnenkunst fürs Wohnzimmer: Über die Hälfte des Publikums vom «Stream 21» beteiligte sich aktiv

Am Donnerstag und Freitag wurde aus dem «Gleis 21» in Dietikon das digitale Festival «Stream 21» übertragen. Der Festivalleiter freut sich über die rege Beteiligung der Zuschauerinnen und Zuschauer, die von zu Hause aus Lieder auswählen konnten und kreative Vorlagen für das Improvisationstheater lieferten.

Florian Schmitz
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Für ein Streamingfestival wurde das «Gleis 21» in ein Fernsehstudio umgewandelt
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Gülsha Adilji wurde für ihren Auftritt von zu Hause aus Zürich live zugeschaltet.
Bei Slampoetin Lisa Christ war die Übertragungsqualität besser als zuvor bei Adilji.
Während Ueli Schmezer's MatterLive noch schmissige Mani-Matter-Hits zum Besten geben, bereitet Lisa Christ sich auf ihren Auftritt vor.
Noch selten war das Gleis 21 so vollgepackt mit Technik.
Urs Bucher führte als Moderator durch den Kulturabend.
Kathrin Fischer, Reto Bernhard, und «Sali» (Vlado Salji) zeigten beim interaktiven Theatersport ihre Improvisationsfähigkeiten.
Das Geschehen auf der Bühne wurde von zwei Kameras dynamisch eingefangen.
Sven Stickling moderierte den Theatersport und nahm die vielen kreativen Inputs von Zuschauerinnen und Zuschauer dankend auf.
Ueli Schmezer’s MatterLive mit Gitarrist Nick Perrin, Frontmann Ueli Schmezer, Bassist Michel Poffet und Perkussionist Andi Pupato spielten wie vor ausverkaufter Kulisse.
Schmezer machte der Auftritt sichtlich Spass.
Der Sound klang vor Ort recht basslastig eingestellt, weil er nicht für das Live-Publikum abgemischt wurde, sondern für die Zuschauer zu Hause.
Überall Kameras: Das «Gleis 21» erinnerte an ein professionelles Fernsehstudio.

Für ein Streamingfestival wurde das «Gleis 21» in ein Fernsehstudio umgewandelt

Severin Bigler / ©

Während Ueli Schmezer und seine Band MatterLive im «Gleis 21» Klassikern von Mani Matter neues Leben einhauchen, wähnt man sich abgesehen von den maskierten Gesichtern abseits der Bühne für kurze Zeit an einem normalen Konzert. Aber sobald Schmezer eines der verspielt und schmissig interpretierten Lieder mit einem dynamischen «Hey» beendet, herrscht fast absolute Stille. Denn die Berner spielen nicht für die wenigen Techniker und Helfer im Saal vor Ort in Dietikon, sondern für das Publikum zu Hause. Das ist auch am Sound zu hören, der vor Ort ziemlich basslastig wirkt, aber auf Kopfhörern genau richtig klingt.

Die Band spielt im Rahmen des schweizweit ersten Bühnenkunstfestivals Stream 21, das am Donnerstag- und Freitagabend live in die Stuben interessierter Kulturfreunde übertragen wurde. Organisiert wurde der Anlass vom in Bern ansässigen Verein Streaming Festival – mit Unterstützung vom «Gleis 21», der Stadt Dietikon sowie den Firmen Streaming Solutions und Ticketpark (die «Limmattaler Zeitung» berichtete). Gesamtleiter Manuel Reinhard ist mit dem ersten Abend zufrieden, wie er am Freitag auf Anfrage sagt. «Wir sind sehr glücklich darüber, wie es gelaufen ist. Wir konnten zeigen, dass so ein Festival in guter Qualität umsetzbar ist.»

Wenn das Steueramt Liebesbriefe verschickt

Besonders Freude bereitet ihm, dass sich am Donnerstag über die Hälfte der Zuschauer von zu Hause aus aktiv beteiligen. So können sie etwa darüber abstimmen, welches Lied von Mani Matter als nächstes gespielt werden soll. Die Interaktion mit den Künstlern erlebt mit dem interaktiven Improvisationstheater seinen Höhepunkt. Dank kreativer Inputs von zu Hause spielen die Akteure von Winterthur Theatersport und Improphil Luzern aus dem Stegreif witzige und verrückte kleine Theaterszenen zu Themen wie einem Liebesbrief vom Steueramt oder einem neu erfundenen Schwingbesen mit integrierter Fliegenklatsche.

Der interaktive Theatersport ist besonders auf unmittelbaren Austausch angewiesen. «Schön hat es so gut funktioniert. Das wurde in dieser Form in der Schweiz bisher noch nicht umgesetzt», sagt Reinhard. Überhaupt sei das Improvisationstheater beim Publikum sehr gut angekommen, wie erste Rückmeldungen zeigen würden. Er fügt an:

Ich hoffe, wir konnten einigen Kulturinteressierten dabei helfen, diese noch nicht so bekannte Theaterform für sich zu entdecken.

Das sieht Irene Brioschi ähnlich: «Ich bin positiv überrascht, wie gut das Publikum von zu Hause aus mitgemacht hat», sagt die Kulturbeauftragte von Dietikon, die in der Festivalorganisation als Vermittlerin tätig war.

Gülsha wird zugeschaltet, die Band spielt im «Gleis 21»

Obwohl Zuschauerinnen und Zuschauer – die wichtigste Zutat für einen unvergesslichen Abend – vor Ort fehlen, ist das Kulturhaus am Bahnhof schon lange nicht mehr so vielfältig genutzt worden. Kurz bevor die bekannte Fernsehmoderatorin Gülsha Adilji am Donnerstag um 19 Uhr mit einem kurzen Best-of-Programm das Streamingfestival eröffnet, verpflegen sich einige Helfer und Bandmitglieder von MatterLive im Lokal. Er freue sich, überhaupt mal wieder ein paar Menschen bei sich zu bewirten, freut sich «Gleis 21»-Geschäftsführer Michael Minder.

Die Stimmung vor Ort wirkt entspannt. Auch im Saal daneben, der zum professionell wirkenden Fernsehstudio umfunktioniert wurde. Denn Adilji wird von ausserhalb live zugeschaltet, während im «Gleis 21» noch die Vorbereitungen für das bald beginnende Konzert laufen. Bevor Adilji die absurden Ansprüche an sie als Frau auf dem Singlemarkt pointiert auf die Schippe nimmt, werden die Zuschauer begrüsst von Urs Bucher, der als Moderator durch den Abend führt. Der neben der Bühne aufgestellte Tisch, hinter dem ein mit Pflanzen und Discokugel dekoriertes Regal steht, wirkt im Stream wie ein kleines, separates Studio.

Sie trage seit langer Zeit wieder mal einen BH und habe zumindest ihren Oberkörper mal wieder ordentlich eingekleidet, sagt Adilji. Sie sei zu Hause in Zürich, «der heimlichen Hauptstadt», verrät sie – und löst unter den Berner Musikern im «Gleis 21» ein amüsiertes, widerprechendes Raunen aus.

Adilji offenbarte, wie speziell es sei, wenn einem zu Hause nur das Licht der Webcam signalisiert, dass man gerade vor einem grossen Publikum auf Sendung ist. Aber weil sie ihr Programm alleine bestreite und nur Geschichten erzähle, sei es technisch immerhin viel einfacher als etwa bei Konzerten von Bands.

Der Backstagebereich ist für einmal vor der Bühne

Während die Komikerin auf mindestens sieben verschiedenen Bildschirmen im mit Technik beladenen Saal über den perfekten Mann sinniert, der Kinder lieben, alles flicken können und mit ihr zusammen Gilmore Girls schauen muss, wird es lauter. Denn Ueli Schmezer's MatterLive erheben sich aus dem in einer Ecke eingerichteten Backstagebereich und beginnen, sich auf der Bühne einzuspielen. Bald gilt es auch für die Techniker vor Ort ernst.

«Wir schliessen nahtlos an Gülsha an», kündigt Schmezer Mani Matters Hit «Psyche vo de Frau» an. Das Konzert wird mit zwei Kameras gefilmt. Damit die Aufnahme zu Hause dynamisch und vielfältig rüberkommt, ist viel Kommunikation nötig. Ständig erhalten die beiden Kameramänner Regieanweisungen, um das Geschehen optimal festzuhalten. Rote Lichter auf ihren Kameras zeigen an, wann sie live auf Sendung sind und sich keinen Lapsus erlauben dürfen. «Ich bin beeindruckt von der Arbeit des Regisseurs, der nonstop Anweisungen gegeben hat», sagt Reinhard.

Viele Zuschauer wollen Projekt unterstützen

Gerade in dieser für Kunstschaffende so schwierigen Zeit sei es wichtig, nicht einfach aus Verzweiflung Gratisinhalte rauszuhauen, sagt Schmezer zwischen zwei Liedern. Das ist auch den Veranstaltern ein wichtiges Anliegen. Das Festival ist auch ein Experiment für Live-Bühnenkunst im digitalen Raum. Dabei schwingt auch immer die Frage mit, wie sich mit den Kulturinhalten überhaupt Geld verdienen lässt. Deshalb wurde die Veranstaltung bewusst nicht gratis im Internet übertragen. Die ersten Zahlen für Donnerstagabend stimmen Festivalleiter Reinhard optimistisch, wie er sagt: «Was uns besonders freut, ist, dass viele den teureren Supporter-Pass gekauft haben.»

Auch Irene Brioschi zieht eine positive Bilanz:

Ich bin erleichtert, dass die ganzen Abläufe so gut funktioniert haben. Das Team hat eine super Arbeit geleistet

Denn bei Live-Übertragungen könne so viel schief gehen. Nicht nur inhaltlich, auch technisch konnte der Abend überzeugen. Die Produktionsqualität der Aufnahmen im «Gleis 21» war hochwertig. Auch die zugeschaltete Slampoetin Lisa Christ war immer flüssig und hochaufgelöst im Bild zu sehen, während sie ihre spitzfindigen Texte vortrug. Einzig der Auftritt von Gülsha Adilji konnte qualitativ nicht ganz mithalten, war aber immer gut verständlich.

Schon am ersten Abend zeigte das «Stream 21», wie vielfältig Bühnenkunst sein kann. Das setzte sich am Freitag nahtlos fort, als Semih Yavsaner das Publikum mit seiner Kunstfigur Müslüm amüsierte und Kunstschaffende über die Chancen und Herausforderungen der Kultur im digitalen Raum zu diskutieren.