Limmattal/Zürich
Betroffen vom Bauboom: Kreative sind ständig in Bewegung

Kunst- und Kulturschaffende gedeihen besonders in günstigen Zwischennutzungsräumen. Doch sowohl in der Stadt Zürich als auch im Limmattal verdrängen viele neue Überbauungen die alten Industriebrachen.

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Insgesamt arbeiten 33 Bildhauerinnen und Bildhauer auf dem Gaswerk-Areal.
14 Bilder
Blick in ein Atelier der AZB.
Die Kunstkammer der AZB sticht mit ihrer leuchtenden Farbe hervor.
Eine Ausstellung in der AZB Kunstkammer.
Der Innenhof des Schellerareals (Anfang 2006).
Der szenische Architekt Tomi Bricchi malte 1983 das grosse Graffiti auf dem ehemaligen Jugendhaus. Dabei inspirierte er sich bei "The Wall" von Pink Floyd.
Die Webstube auf dem Schellerareal (Anfang 2006).
Blick von der Zürcherstrasse auf das bei Künstlern beliebte Areal (Anfang 2006).
Im April 2007 ware die Industriebrache verschwunden und das Fundament für die moderne Überbauung bereits gelegt.
Keine Spuren der Vergangenheit: Der Innenhof der neuen Siedlung.
Wo Künstler und Kulturschaffende im Limmattal arbeiten
Salome Kuratli, Gründerin der Halle.li.
Auch Ausstellungen finden in der Halle.li sporadisch statt.
Eine Übersicht aller Galerien und Kunsträume in Zürich. Ganz links sind auch die Halle.li (15) und die Kunstkammer der AZB (19) eingezeichnet.

Insgesamt arbeiten 33 Bildhauerinnen und Bildhauer auf dem Gaswerk-Areal.

Sophie Rüesch

Die Kreativwirtschaft hat sich in Zürich als Branche und wichtiges Element der wirtschaftlichen Vielfältigkeit etabliert. Eine neu veröffentlichte Studie mit dem Titel "Räume und Bewegungen der Kreativen in Zürich 1989-2014" zeigt die räumliche Dynamik der Kreativschaffenden und deren Ursachen, auch vor dem Hintergrund, dass der Raum in Zürich stark genutzt und teuer ist, wie die Stadt in einer Mitteilung vom Donnerstag schreibt.

Attraktive Standorte sind nach wie vor die Stadtkreise 4 und 5. Die ehemaligen Industrieareale wurden in den 1990er Jahren wichtige Aufbruchsorte für die Kreativ- und Kunstszene. Die Raumfrage ist eine wichtige Rahmenbedingung für das Gedeihen der Kreativwirtschaft, wie die Studie zeigt. Die Zwischennutzungen von Industriebrachen und entsprechende Mietkonditionen haben Firmengründungen begünstigt. Ein Drittel aller befragten Kreativen war mindestens einmal in einem solchen Areal tätig.

Kreativwirtschaft im Limmattal

Ein Blick auf die Karte des "Zurich Art Space Guide" (siehe Bildergalerie), auf der viele unabhängige Kunsträume und Ateliers vermerkt sind, bestätigt die fortlaufende Attraktivität der Zürcher Szenekreise 4 und 5. Doch am linken Rand der Karte fällt auf, dass auch über die Stadtgrenzen hinaus solche Kunsträume bestehen. So nahm die Atelierwerkhalle Halle.li auf dem Geistlich-Areal in Schlieren dieses Jahr erstmals an der "Linie 31" teil, einer gemeinsamen Ausstellungsaktion vieler Stadtzürcher Galerien und Ateliers.

Halle.li in Schlieren

Die Halle.li ist ein Zwischennutzungsprojekt auf dem Schlieremer Geistlich-Areal. Unlängs des Bahnhofs produzierte die Firma Geistlich hier früher Leim. Derzeit sind neun Künstler in der Atelierwerkhalle beschäftigt, die neben einem 100 m2 grossen Raum rund 8-12 Arbeitsplätze à 25 m2 bietet. Gründerin Salome Kuratli bewarb sich Anfang 2013 bei der Firma Geistlich um einen Raum zur Zwischennutzung, im Mai 2013 war die Halle.li bereits Realität. Neben ihrer Funktion als Arbeitsort öffnet die Halle in unregelmässigen Abständen auch ihre Tore für Ausstellungen.

Wie lange der Kunstraum noch bestehen bleibt, ist nicht klar. Bis 2026 soll die derzeit laufende Transformation des Industrieareals in das neue Quartier amRietpark abgeschlossen sein. Ursprünglich erhielt Kuratli nur den Zuschlag bis Ende 2014, doch über ein halbes Jahr später arbeitet die Künstlergemeinschaft weiter in ihren Ateliers.

Grössere Atelierflächen, in denen Künstler sich zusammenschliessen, sind im Limmattal aber eher selten. Neben der Halle.li hat sich die Arbeitsgemeinschaft Zürcher Bildhauer (AZB) auf dem Gaswerk-Areal in Schlieren eingenistet. Trotz tieferer Mieten als in Zürich ist dies nicht verwunderlich, denn auch in der Agglomeration werden brachliegende Industrieareale zunehmend durch neue Überbauungen für Wohnungen und Gewerbe ersetzt.

AZB in Schlieren

Anfang der 1980er Jahre beschlossen 12 Bildhauer, ihre Probleme und Herausforderungen im Beruf gemeinsam zu lösen. 1983 gründeten sie die Arbeitsgemeinschaft Zürcher Bildhauer (AZB). Nur ein Jahr später wurden im Gaswerk Schlieren, wo die AZB auch heute noch beheimatet ist, die ersten Aussenplätze und Ateliers bezogen.

Mittlerweile arbeiten 33 plastisch schaffende Berufskünstler auf dem Areal und die AZB bietet zusätzlich ein Gastatelier für Künstler und Künstlerinnen aus dem Ausland an. Aufgrund grosser Beliebtheit musste die AZB einen Mitglieder-Aufnahmestopp verhängen, derzeit ist der Verein auf der Suche nach einem zusätzlichen Stück Land, um weiter wachsen zu können.

Auf dem ehemaligen Gaswerk-Areal hat die AZB eine gesicherte Zukunft, der Vertrag mit der Stadt läuft noch mindestens zehn Jahre. Neben der Vergabe von Werkplätzen und Ateliers setzt die AZB sich auch für die kulturelle Förderung der Bildhauerei ein. Mit der Kunstkammer betreibt die AZB seit 2005 zusätzlich einen Ausstellungsraum auf dem Areal.

Dies passierte auch in Dietikon mit dem Schellerareal. Früher ein Sammelbecken für Kreative und Kulturschaffende, entstand ab Sommer 2006 auf dem Gebiet direkt am Bahnhof der moderne Wohn- und Arbeitskomplex Trio.

Schellerareal in Dietikon

Die rund 12 000 m2 grosse Industriebrache wurde 2006 abgerissen und bis 2008 entstanden auf dem Areal, wo früher die Firma Scheller mit Chemikalien handelte, 112 Mietwohnungen, Verkaufs- und Büroflächen. Ursprünglich hatte die Stadt das Areal 1979 gekauft, um hier ihr Bezirksgebäude zu errichten. Bis zum Abriss bezogen viele Künstler, Kleinbetriebe, Vereine und das Jugendhaus die ehemalige Industriebrache. So beheimatete das Schellareal unter anderem ein Malatelier, eine Holzwerkstatt, eine Webstube, diverse Musikräume und einen Judoverein.

Viele betroffene Kulturschaffende fanden innerhalb der Stadt alternative Räume an anderen Adressen, vor allem im ehemaligen Josefsheim. Dennoch wird in der Stadt seit dem Abriss der Industriebauten immer wieder der Ruf nach mehr Raum für Kultur in Dietikon laut.

Verschiebung wegen Umnutzung

Obwohl keine Verdrängung der Kunstszene in die Agglomeration oder in andere Städte stattgefunden hat, fand innerhalb von Zürich eine leichte Verschiebung des Milieus statt. Seit dem Jahr 2000 haben die Gründungen im Kreis 5 deutlich abgenommen. Dies ist auf die Umnutzung der Industrieareale zurückzuführen. Nach Ende der Zwischennutzung liessen sich die jeweiligen Kreativen verstreut in anderen Stadtteilen nieder.

Dadurch fielen im Verlauf der Jahre viele Cluster auseinander, wie es in der Studie heisst. Bisher haben sich die Kreativen flexibel gezeigt und immer wieder neue Zwischennutzungsobjekte aufgespürt und zugänglich gemacht. Dabei mussten sie häufig umziehen: jede Firma oder Person im Durchschnitt 2,4 Mal, wie die Studie zeigt. Häufigster Grund für einen Umzug war eine Kündigung wegen Umnutzung. In jüngster Zeit haben sich die Kreise 3 und 9 als Kreativstandorte stärker entwickelt.

Zwischennutzung von Büro- und Gewerbegebäude

An Bedeutung gewonnen haben Büro- und Gewerbegebäuden als Standorte der Kreativen. In den 1990er Jahren lag ihr Anteil bei 25 Prozent, ab 2000 betrug er rund 39 Prozent. Im Geschäftsflächenmarkt gibt es nach wie vor hohe Leerstandsquoten.

Doch insbesondere für die jungen und oft innovativsten Kreativen sind die Flächen nicht erschwinglich oder werden nicht zugänglich gemacht, wie es in der Studie heisst. Ein Umdenken bei den Akteuren des Immobilienmarktes bezüglich Preisgestaltung und Gewinnerwartung, sowie das vermehrte Zulassen von Zwischennutzungen könnte neuen Spielraum für das kreative Zürich eröffnen.

Die Resultate der Studie entstammen einer Online-Umfrage, an der 445 Kreative Auskunft gaben über Arbeitsräume, die Quartiere, in denen sie tätig waren, die Häufigkeit ihrer Umzüge sowie die Umzugsgründe. Zum ersten Mal erfasst wurden räumliche Aspekte der Zürcher Kreativwirtschaft einer Periode von 25 Jahren. Die Studie ist abrufbar unter www.stadt-zuerich.ch/kreativwirtschaft. (sda/flo)