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25 Menschen berichten im Buch «Unzertrennlich. Ein Stück Kindheit» des Unterengstringers René Donzé über die Geschichte ihrer Stofftiere und Bäbis. Dabei kommen berührende Geschichten ans Licht – und einige traumatische Erlebnisse.
Meiner hiess Tigi. Tigi lag jede Nacht mit mir im Bett. Er war mein tröstender Freund, an ihm hielt ich mich fest, wenn ich schweissgebadet aus Albträumen erwachte. Das blieb auch nach seinem schrecklichen Unfall so. Als ich fünf Jahre alt war, durfte ich mit meinem Freund Balz im Jeep seines Vaters mitfahren, als dieser auf einer Militärübungsstrecke rumbretterte. Tigi war natürlich dabei.
Ich hielt den kleinen Plüschtiger fest in den Händen. Doch als wir mit dem Wagen über eine schlammige Kuppe rasten und die Räder kurz den Kontakt zum Boden verloren, passierte es: Irgendwie muss Tigi meinen Händen entglitten sein – ich merkte es erst etwas später. Als wir die Buckelpiste nach ihm absuchten, fand ich ihn, der Länge nach plattgedrückt im Dreck. Trotzdem wollte ich ihn behalten – keine Frage. Er begleitete mich noch drei, vier Jahre, bis ich fand, ich sei zu alt für Stofftiere. Tigi kam in eine Kiste im Estrich meiner Mutter, wo er noch heute ist.
An meinen treuen Begleiter dachte ich erst wieder, als ich das Buch «Unzertrennlich – ein Stück Kindheit» in die Finger bekam. Der gebürtige Unterengstringer Journalist René Donzé und die Fotografin Giulia Marthaler porträtieren darin 25 erwachsene Menschen gemeinsam mit ihren Stofftieren und Bäbis.
Die Schwarzweissbilder der Protagonisten wirken irritierend. Eine solche Intimität zwischen Mensch und Gegenstand passt nicht ins Bild rational denkender Erwachsener. Erst die Kindheitsgeschichten, welche Donzé im Gespräch mit den 25 Personen protokolliert hat, lösen diesen Kontrast auf.
Die Stoffbären, Puppen und Plüschschafe werden darin plötzlich zu Anknüpfungspunkten an einen Kosmos detailreicher Erinnerungen – zu einer Brücke in die Vergangenheit. Damit verbunden ist all der Trost, die Freude und Zärtlichkeit, welche die Porträtierten mit ihren beseelten Wesen teilten und die auf den Fotografien Marthalers zum Ausdruck kommen.
Und die Kindheitsgeschichten, die bei diesen Gesprächen aus der Erinnerung in die Gegenwart gedrungen sind, haben etwas Fesselndes. Eines der biografischen Exzerpte handelt etwa von der 89-jährigen Gianna Ruffo, die mit vier Jahren als eine Art Verdingkind zu einem reichen Paar ins Tessin kam. Von der psychisch kranken Adoptivmutter völlig isoliert, fand sie Trost bei ihrer Puppe «Bluette».
Sie schmuggelte diese selbst mit, als sie ins Institut der Menzinger Schwestern in Lugano gesteckt wurde und keinerlei persönliche Effekten mitnehmen durfte. Trotz dieses schwierigen Einstiegs ins Leben und weiterer Rückschläge danach wirkt Ruffo nicht verbittert. Ihren Erinnerungsbericht schliesst sie mit den Worten: «Mein Leben war gut so, wie es war.» Auf dem Foto hält sie «Bluette» behutsam in beiden Händen.
Nicht alle Porträts erzählen derart dramatische Geschichten. Und doch verblüffen die meisten auf irgendeine Art. Man fragt sich als Leser irgendwann, wie die beiden Macher des Buches diese Menschen gefunden haben – ob gar eine Art Casting dahintersteht. Donzé winkt ab: «Nein. An sehr viele Personen gelangten wir über Mundpropaganda.» In einigen Fällen aber seien sie selbst auf die Porträt-Partner zugegangen. So etwa im Fall von Marlis Jenny (siehe Box), von der Donzé über Umwege gehört hatte. Ein paar Menschen hätten sie auch einfach auf der Strasse angesprochen und sie nach dem Plüschtier ihrer Kindheit gefragt.
Gemeinsam mit ihnen tauchten sie in deren Erinnerungen ein. «Der schönste Moment bei dieser Arbeit war, wenn im Gespräch über eine Puppe oder ein Stofftier plötzlich eine Grenze überwunden wurde. Wenn wir plötzlich hinter die Fassade einer Person sahen», sagt Donzé.
Der gebürtige Unterengstringer und Sohn von Herbert Donzé, dem ersten Reallehrer der Gemeinde, arbeitet hauptberuflich als Redaktor bei der «NZZ am Sonntag». Hätte ihm früher jemand gesagt, er solle ein Buch über Bären und Puppen schreiben, hätte Donzé ihn für verrückt erklärt, wie er sagt.
Die Idee entstand, als ein Freund der Fotografin Giulia Marthaler seinen Plüschbären bei einem Umzug zuunterst im Kleiderschrank fand. Er erzählte ihr von den Erinnerungen, die noch am Pelz seines «Brumis» hängten. Sie hatte die Idee, ein Bildporträt von den beiden aufzunehmen. Als Donzé davon hörte, fand er es reizvoll, die Geschichte dazu textlich festzuhalten.
Das Schicksal dieses Freundes, des Grafikers Roland Szabó, bildet heute den Auftakt von «Unzertrennlich». Sie machten sich auf die Suche nach weiteren Erwachsenen, die ihren Liebling aus Kindertagen noch hatten. Es entstand eine Serie, und aus der Serie innert dreier Jahre ein ganzes Buch.
Zwei Stofftiere und ihre Geschichten bleiben den Lesern vorenthalten – jene der Macher des Werks. Er wisse nicht einmal mehr, wie sein «Bärli» geheissen habe, sagt Donzé.
Und doch sprudeln aus dem Journalisten beim Gedanken an ihn Erinnerungen hoch. Etwa daran, wie er als Bub mit seiner Familie nach Holland fuhr, als mitten in der Nacht das Benzin ausging. «Mein Bruder und mein Vater wollten aus einem Kanister ‹Most› nachfüllen. Dabei verschütteten sie einen Teil – leider auch über mein Bärli», sagt Donzé. Das Plüschtier habe danach so stark gerochen, dass es seine Mutter habe waschen müssen. Er habe den Bären mitgenommen, als er zu Hause auszog, erinnert sich der Journalist. Doch wo er heute ist, weiss er nicht: «Er muss irgendwo im Estrich liegen.»
Als Donzé das sagt, kommt mir plötzlich der Gedanke, dass wohl den meisten Stofftieren dasselbe undankbare Schicksal blüht. Und ich nehme mir vor, mich bei nächster Gelegenheit auf die Suche nach meinem Tigi zu machen, gespannt darauf, was er mir über meine Vergangenheit alles zu erzählen hat.