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Mit dem Animationsfilm des Jahres und einem 16-Milimeter-Projektor im Gepäck kommt Claudius Gentinetta an die Trickfilm-Ausstellung. Im Interview gibt er Einblick in sein Schaffen.
Claudius Gentinetta: Das Ausschlaggebende und Faszinierende beim Trickfilm ist, das deine Fantasie die Möglichkeiten vorgibt. Man muss die gedanklichen Grenzen sprengen. Das macht mich neugierig. Ich versuche bei jedem Film etwas Neues und will mich jedes mal neu herausfordern.
Mit zwölf lieh mir mein Nachbar seine Super-8-Kamera aus, damit ich Trickfilme machen konnte. Er sah, dass ich die ganze Zeit Comics zeichnete und fand: «Mach doch mal einen Trickfilm daraus.» Dank dieser Kamera habe ich angefangen, meine Comics zu verfilmen. Zuerst mit meinem Freund, dann mit vielen Nachbarskindern. Alle haben gerne mitgemacht.
Meistens verfolge ich zwei oder drei Projekte gleichzeitig und muss mich dann irgendwann entscheiden. Bei «Selfies» hatte ich ein paar Skizzen, nachdem mir vor Jahren in Rom jemand einen Selfie-Stick verkaufen wollte. Ich hatte keine Ahnung, was es ist, und dachte, es sei vielleicht zum Fötzeln. Am nächsten Tag hab ich dann viele Touristen mit Handys am Stick gesehen. Dort ist mir die Idee gekommen, dass der Selfie-Stick als Symbol einen Höhepunkt der Manie zur Selbstinszenierung darstellt.
Entscheidend war der Gedanke, dass ich mich als Trickfilmer gerne mit dem alltäglichen Wahnsinn auseinandersetze, mich auch mal einem Thema annehme, das mich persönlich eigentlich gar nicht interessiert, das aber aktuell ist und in dem sich vieles spiegelt, was unsere heutige Zeit ausmacht. Und nein, ich besitze selbst kein Smartphone.
Mich hat interessiert, wie ich all diese Selfies zu einem Film verknüpfen kann. Wie bringe ich eine Story rein und wie verbinde ich das Material zeichnerisch und malerisch zu einer Einheit. Das fand ich extrem spannend.
Ich habe im Internet und in Zeitungen recherchiert und reale Selfies gesammelt und ausgedruckt. Die Ausdrücke haben Cécile Brun und ich mit Pinsel und Farbe von Hand übermalt. Danach haben wir die Bilder wieder eingescannt und digital animiert.
Ich habe ein halbes Jahr tief recherchiert und bin auf die Welt gekommen. Ich habe fürs Material dann Ordner angelegt: «schlimm», «schrecklich» und «ganz schrecklich». Zu viele Menschen kennen keine Scham, keine Grenzen mehr, da wird dann auch ein Selfie mit der gestorbenen Grossmutter gemacht. Ich habe gemerkt, dass ich dank meiner Recherche das ganze Leben darstellen kann, weil es nichts gibt, dass nicht in Selfie-Form publiziert wird. Daraus entstand die Idee, innerhalb kurzer Zeit zu versuchen, dramaturgisch die Abfolge des Lebens zu zeigen.
Ja. Man muss es sich vorstellen wie eine Collage. Ich habe jeweils ein reales Bild genommen. Im Photoshop habe ich die Personen mit Köpfen von Freunden bestückt, Haare oder Kleider geändert, teilweise den Hintergrund ausgewechselt. So entstand daraus etwas Neues. Insgesamt haben wir rund 600 Selfies bearbeitet.
Übers Zeichnen entstehen oft meine Ideen für Filme. Die zweite Art ist, dass ich mir wirklich ein Thema überlege, zu dem ich etwas machen will, wie jetzt bei «Selfies». Die dritte Möglichkeit ist, dass ich einen Ton habe, der mich beschäftigt oder fasziniert, und ich dann für diesen einen Film kreiere.
Ja, da war es einfach. Ich verbrachte eine Nacht im Zimmer mit einem Freund, der wahnsinnig schnarchte, und ich konnte die ganze Nacht nicht schlafen. Das Schnarchen war so eindrücklich. Ich hatte Wachträume und hatte den Film fast schon geträumt. Am nächsten Morgen fragte ich ihn, ob er zum Aufnehmen mit mir ins Studio kommt. Meine aktuelle Idee ist, mit Zahnarzt-Geräuschen einen Film zu erzählen.
Ich zeige einige Filme von mir und Lieblingsfilme befreundeter Filmemachern, die international sehr bekannt sind und für ihre Filme sogar schon mit dem Oscar ausgezeichnet wurden. Einer war mein Professor und zwei besuchten mit mir damals die Schule. Ich will unbedingt zwei ganz alte Filme von mir zeigen, deshalb habe ich extra einen 16-Milimeter-Projektor besorgt. Und dann zeige ich sicher meine neuen Filme. Ich finde es interessant und spannend für das Publikum, zu sehen, wo ich angefangen habe und wo ich jetzt stehe.
Wenn man einen Film gemacht hat, ist es ein Geschenk, damit herumreisen zu dürfen und ihn vor Menschen zu zeigen. Das ist Teil des Lohns für die Arbeit. Es ist für uns Filmemacher extrem schön zu erleben, wie die Zuschauer auf den eigenen Film reagieren und mit ihnen zu diskutieren und zu sehen, was zurückkommt.
Geboren und aufgewachsen in Luzern, studierte der heute 51-Jährige an der Hochschule Luzern Grafikdesign, weil es für ihn in der Schweiz keine Möglichkeit gab, Animationsfilm zu studieren. Sein filmisches Wissen sammelte er vor allem im Ausland. So verbrachte er in der Schulzeit ein Semester in Liverpool und anschliessend anderthalb Jahre in Kassel. 1995 arbeitete er dank einem Stipendium ein Jahr in Krakau.
Seit Ende der 1980er-Jahre kreiert er animierte Kurzfilme. Seine Werke wie «Die Seilbahn», «Schlaf» und «Islander’s Rest» haben national und international zahllose Preise gewonnen. «Selfies» wurde dieses Jahr mit dem Schweizer Filmpreis für den besten Animationsfilm ausgezeichnet. Gentinetta arbeitet als Ein-Mann-Produktionsfirma in einem Atelier in Zürich, direkt an der Grenze zu Schlieren.
Er hat zwei erwachsene Kinder und lebt mit seiner Frau in Zürich. (flo)