Literatur
Édouard Louis ist Frankreichs zornigster Schriftsteller und Gesellschaftskritiker

Männergewalt macht ihn rasend. Trotzdem verteidigte Édouard Louis die Gelbwesten-Proteste. Seine Romane sind wütende, zärtliche Klagelieder gegen die Armut und die Schuld der Politik daran. Nach dem Vaterbuch schreibt er nun, wie seine Mutter sich daraus befreite.

Hansruedi Kugler
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Mit 29 Jahren und nach vier Büchern bereits ein Literaturstar: Édouard Louis.

Mit 29 Jahren und nach vier Büchern bereits ein Literaturstar: Édouard Louis.

Ed Alcock/M.y.o.p./Laif / laif

Politiker sind Mörder, schreibt der junge französische Intellektuelle und Schriftsteller. «Du gehörst zu jener Kategorie von Menschen, für die die Politik einen verfrühten Tod vorgesehen hat», so Édouard Louis in seinem zornigen Buch über seinen Vater, dessen Leben ein trister Absturz ist: Monotone Fabrikarbeit, Arbeitsunfall, gekürzte Sozialhilfe, Armut als politische Demütigung. Die Folge: Saufen, Ehefrau verprügeln, Schwulen- und Ausländerhass. Dass in der sozialen Hölle nicht Revolte, sondern Selbstzerstörung blüht, ist das Trauma des Édouard Louis. Seine eigene Homosexualität rettet ihn, weil sie ihm die Anpassung verunmöglicht. Es folgt die Flucht in die Bildung, Flucht nach Paris, ins politische Engagement – und ein neuer Name. Édouard nennt sich nicht mehr Bellegueule, was so viel wie Schönmaul heisst. In Paris wäre das ein Signum für ein Provinzei.

Die Sehnsucht nach dem Authentischen fördert Louis' Erfolg

Ein Text über diesen Autor muss wuchtig beginnen, denn so sind auch seine Bücher, so ist sein Zorn: Immer befeuert davon, die Ungehörten hörbar und sichtbar zu machen. Man mag kritisieren, dass seine konsequente Ich-Perspektive dazu in Widerspruch gerät. Ein Romancier würde versuchen, in die Perspektive der Armen zu schlüpfen. Louis bleibt immer autobiografisch, wie viele andere Autoren, die ihren Aufstieg aus der immer nach dem gleichen Muster beschriebenen Arbeiterklasse literarisch als Rettung aus dem Elend beschreiben.

Das Satiremagazin «Titanic» hat gerade seinen Spott darüber verbreitet. Im frei erfundenen Besuch bei Louis sitzt er lässig auf seiner Chaiselongue und sagt: «Ich denke oft an meine Familie. Weil ich mit ihren Biografien meinen Lebensunterhalt verdiene.» Denn lesend stellt sich die Kulturbourgeoisie die Arbeiterschicht als gruselige Hölle vor. Eine böse Pointe. Dass seine Klagelieder Gefahr laufen, monokausal die Gesellschaft und die Politik an den Pranger zu stellen, scheint Édouard Louis egal zu sein. Dass sie auf dem Buchmarkt erfolgreich sind, hat wohl zu tun mit dem Trend zum Autofiktionalen, mit der Sehnsucht nach dem Authentischen in der Gegenwartsliteratur.

Im Gewalt-Dilemma der französischen Linken

Linke Intellektuelle stehen in Frankreich in den grossen Fussstapfen von Jean-Paul Sartre und Pierre Bourdieu – und geraten in ein Gewalt-Dilemma. Sartre huldigte Mao Tse-tung und lief in den 1950er- und 60er-Jahren mit an unzähligen Protest- und Solidaritätsmärschen gegen Frankreichs Kolonialkriege zwischen 1946 und 1962 in Indochina und Algerien. Befreiungsbewegungen ohne jede Gewalt? Für Sartre schwer vorstellbar. Die Gewalt des Kolonialismus und die Gewalt der Klassenfrage beherrschen viele Debatten in Frankreich.

In der Tradition des Soziologen Bourdieu, der die Klassenschranken in seinem Buch «Die feinen Unterschiede» analysierte, seziert Édouard Louis in seinen autobiografischen Romanen die Unterdrückung der sogenannten Unterschicht. Als 300 000 Gelbwesten im November 2018 die Champs-Élysées verwüsteten, verteidigte der damals 26-jährige Starintellektuelle Édouard Louis die Bewegung gegen linke Kritik, die darin Rechtspopulismus witterten. Antisemitische Plakate zierten den Protestumzug.

Das fand auch Louis widerlich, feierte aber den Protest der Ungehörten gegen Emmanuel Macrons Benzinpreiserhöhung. Louis’ Bücher berichten ja davon: Der Benzinpreis habe seinem Vater den Stolz und den Rücken gebrochen, heisst es in «Wer hat meinen Vater umgebracht». Nach dem Verlust seiner Arbeitsstelle gab es für Louis’ Vater eine gleichwertige Arbeit nur in einer Stadt, in die er mit dem Auto hätte pendeln müssen, sich aber die Benzinkosten nicht leisten konnte. Also musste er den zermürbenden Job als Strassenkehrer annehmen. Die Politik habe seinen Vater getötet, schreibt Édouard Louis im schmalen Buch über seinen Vater, das er 2018, noch vor den Protesten der Gelbwesten, veröffentlichte.

Im Mutterbuch schildert Louis eine Freiheit ohne Gewalt

Nun also die Mutter. Vieles im schmalen Buch «Die Freiheit einer Frau» hat man bereits im sensationellen Erstling «Das Ende von Eddy» lesen können, jenem grandiosen Dorfpanorama, in dem Louis von seinen verzweifelten Anpassungsversuchen berichtet, seiner Homosexualität und der Flucht aus dem von Männlichkeitswahn vergifteten Dorf. Im neuen Buch nun erfindet er einen geradezu zärtlichen sprachlichen Stil, um vom stillen Leiden und dem tapferen Aufbruch der Mutter aus einer desolaten Ehe zu erzählen.

Während sein Vater am Ende von «Wer hat meinen Vater umgebracht» von einer «ordentlichen Revolution» träumt und man ihn sich als gewalttätigen Gelbwesten-Protestler vorstellen kann, sagt seine Mutter am Ende zum Sohn, sie habe sich Liebesromane gekauft, weil sie das Fernsehen satt habe. Es ist die weibliche, gewaltlose Emanzipation – ohne Revolutionsgerede, ohne Strassenprotest. Vielleicht schildert Louis eine Miniutopie, eine Freiheit ohne Gewalt. Er, der Kampagnen gegen Polizeigewalt unterstützt, auf Theaterbühnen sich selbst spielt, einmal vergewaltigt wurde und darüber seinen zweiten Roman schrieb – er bezeichnet Gewalt als seinen Erzfeind.

Er schreibt in der Tradition von Roland Barthes und Annie Ernaux

Édouard Louis ist ein Literaturstar, in Frankreich und auch in den USA, nachdem sein erster Roman von der «New York Times» hymnisch besprochen worden war. Allerdings ist er nur bedingt ein origineller Autor. Er stellt sich in eine relativ junge Tradition, bewundert Thomas Bernhard für dessen Wutprosa und Peter Handke für dessen erschüt­terndes «Wunschloses Unglück» über seine Mutter. Zudem kopiert er das literarisch-soziologische Schreiben von Roland Barthes, der ebenfalls aufgrund eines Fotos über seine Mutter geschrieben hat. Vor allem aber folgt er lite­rarisch Annie Ernaux: Die Selbster­forschung, die Fotos als Auslöser, das Eintauchen in die Erinnerungsszenen, die Einbettung des Individuellen und die Erklärung aus dem Milieu, die ­Anklage der politischen Verhältnisse. Wie Ernaux schreibt Louis schmale ­Bücher, die ein Familien- und Gesellschaftsbild immer mehr schärfen, ­immer wieder auf dieselben Szenen zurück­kommen.

Erschütternde, sprachlich hochpräzise Bücher, stilistisch sind sie reflektiert, mal sachlich-nüchtern, mal emotional – immer mit einem Hang zur soziologischen Milieuerklärung. Das Ich steht dabei jederzeit als Türöffner für die Analyse. Sein soziologisches Erklären und sein egozentrischer Blick auf die Verhältnisse offenbaren auch ein Problem: Er reduziert die Menschen auf ihre Opferrolle. Ihren eigenen Anteil an solchen Abhängigkeitsverhältnissen innerhalb von Beziehungen blendet er zu oft aus. Warum etwa seine Mutter ruppige, gewalttätige Alkoholiker heiratet, hinterfragt er nicht. Einmal nur sagt sie, er habe als Einziger gut gerochen. Der psychologische Ansatz, warum solche Verliebtheiten in krasse Abhängigkeiten kippen, interessiert Édouard Louis offenbar nicht.

Cover Edouard Louis

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Die Bücher von Édouard Louis

Das Ende von Eddy

Sofort ein gefeierter Bestseller wurde diese grandiose Jugendgeschichte. «An meine Kindheit habe ich keine einzige glückliche Erinnerung», lautet schon der erste Satz. Schonungslos sich selbst gegenüber erzählt Louis von verzweifelten Anpassungsversuchen, der Ablehnung seiner Homosexualität, mit der er im vom Männlichkeitswahn vergifteten Dorf zum verspotteten Aussenseiter wird. Während er in späteren Büchern scharfe Sozialkritik explizit als Kampf formuliert, lebt dieser Roman noch stark von der Kraft der erschütternden Erzählung.
Das Ende von Eddy. Roman. S. Fischer, 206 S.

Cover Edouard Louis

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Im Herzen der Gewalt

Wie verhindert man, zum Rassisten zu werden, wenn man als Homosexueller von einem algerischen Immigranten mit einer Pistole bedroht und vergewaltigt wird? Wie ein Flirt zum Horror und zu demütigenden Polizeiverhören führt, beschreibt Louis im autobiografischen Roman. Die schockierende Erfahrung erzählt er bis in kleinste Details und legt die Lebensgeschichte des Vergewaltigers daneben.   


Im Herzen der Gewalt. Roman. S. Fischer, 217 S.

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Wer hat meinen Vater umgebracht

Das eigene Verdrängte verachtend – Édouard Louis hat dieses Männlichkeitsparadox beim Vater begriffen. Im Vaterporträt changiert er zwischen Zorn auf den Vater, der den schwulen Sohn verachtet, und der Liebe zum von den Verhältnissen zerstörten Mann. Bewegend, analytisch präzis.


Wer hat meinen Vater umgebracht. S. Fischer, 77 S.

Die Freiheit einer Frau

Wer hat meinen Vater umgebracht Das eigene Verdrängte verachtend – Édouard Louis hat dieses Männlichkeitsparadox beim Vater begriffen. Im Vaterporträt changiert er zwischen Zorn auf den Vater, der den schwulen Sohn verachtet, und der Liebe zum von den Verhältnissen zerstörten Mann. Bewegend, analytisch präzis.


Wer hat meinen Vater umgebracht. S. Fischer, 77 S.

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