Es gibt Dinge, auf die unsere Kolumnistin Simone Meier dank ihrer Lebenserfahrung schmerzfrei verzichten kann. Doch das Ich aus ihrer Jugend würde ihr heutiges Ich belächeln.
Neulich fiel mir eine Kolumne wieder in die Hände, die ich hier einmal für Sie geschrieben hatte. Sie begann mit den Worten: «Ich war bei meiner Frauenärztin. Sie tat, was sie tun musste, und sagte: ‹Frau Meier, nicht mal mehr ein Jahr und Sie werden 50!›» Nun, das war vor vier Jahren. Seither habe ich den Fluss, der die zweite von der ersten Lebenshälfte trennt, definitiv überschritten. Und ich habe den leisen Verdacht, dass es mit dem Leben jetzt so wird wie mit den Ferien, wenn sie in die zweite Hälfte gehen: Alles wird viel zu schnell vorbei sein, dabei ist es doch gerade so schön!
Abgesehen von diesem Flüchtigkeits-Fehler, der sich jetzt in mein Lebensgefühl eingeschlichen hat, finde ich das Älterwerden erholsam. Es gibt Dinge, die ich bisher nicht geschafft habe und die ich jetzt auch nicht mehr schaffen muss. Besonders im lästigen Bereich der Selbstoptimierung. Es gibt auch Dinge, auf die ich schmerzfrei verzichten kann, etwa auf den Narzissmus der anderen, auch wenn er noch so selbstbewusst und betörend glänzend daherkommt. Ich muss auch nicht mehr alles «fühlen», es zu verstehen, reicht völlig.
Mit 25 glaubte ich noch, dass einzig die Gegenwart zählt. Nur alte Leute interessierten sich für die Vergangenheit. Leute über vierzig. Leute über fünfzig konnte man sowieso nur noch mithilfe jener verklärenden Brille, mit der man sonst Grosseltern betrachtete, ertragen. Leute über fünfzig waren herzig, aber in keiner Debatte irgendwie auf der Höhe. Und da war es natürlich sehr ärgerlich, dass ausgerechnet die Einflussreichsten oft die Ältesten waren. Bundesräte, der Papst, die Queen. Mein Ich von damals würde mein Ich von heute belächeln. Umgekehrt allerdings auch.
Aber lassen Sie mich noch einmal auf die Ferientheorie zurückkommen. Ferien sind ja eine minimale Wiederholung jener Zeit in der Kindheit, als man noch Zeit hatte. Als die Hobbys und Schulaufgaben nicht den grössten Teil der Freizeit auffrassen, es noch keinen Gymi-Prüfungsdruck, Zukunftssorgen oder Liebeskummer gab und man einfach tagelang spielen oder sich ziellos beschäftigen konnte. In den Ferien ist diese Ziellosigkeit wieder möglich, Ferien sind kleine Inseln aus Zeit und Atemholen. Und wenn wir auf unser Jahr zurückblicken, stechen Ferien oft beglückend daraus hervor.
Wenn ich auf die ersten 53 Jahre meines Lebens zurückblicke, sind diese Inseln durchaus ab und zu auch Auszeiten, die ich mir nehmen konnte. Vor allem aber sind sie Beziehungen. Zu Menschen, die mich schon lange kennen und die mich oft schon zu einer Zeit kannten und treu ertrugen, als ich selbst noch nicht wusste, wer ich eigentlich bin oder sein möchte. Wir waren zusammen jung und werden zusammen älter, und die Beziehungen zwischen uns sind ungemein wertvolle, fruchtbare Inseln aus Liebe, Freundschaft, Vertrauen und Dankbarkeit. Und ich hoffe von Herzen, dass wir im Strom des Lebens noch lange füreinander da sein können.