In Cannes begeisterte die Italienerin Alice Rohrwacher mit ihrem Drama «Lazzaro felice», und die Festivalleitung gelobte, mit der Gleichstellung vorwärtszumachen.
Und plötzlich geht es Schlag auf Schlag: Am Samstagabend demonstrierten 82 Regisseurinnen, Schauspielerinnen und Produzentinnen auf dem roten Teppich für eine stärkere Vertretung ihres Geschlechts im Programm. 82 ist die Zahl der Regisseurinnen, die seit 1946 im Rennen um die Goldene Palme teilgenommen haben – gegenüber 1645 Regisseuren. Gestern Montag hat nun die Leitung des Festivals eine Erklärung unterzeichnet, mit der sie sich verpflichtet, künftig für eine stärkere Frauenvertretung zu sorgen und transparent zu machen, wer im Auswahlgremium sitzt. «Wir werden uns engagieren», sagte Direktor Thierry Frémaux und wirkte dabei erlegen.
Kein Wunder, jahrelang hatte er behauptet, er könne nichts für die schwache Vertretung der Frauen, schliesslich stammten bloss sieben Prozent aller weltweit produzierten Filme von Regisseurinnen, im Programm von Cannes seien es heuer immerhin 23 Prozent. Er wolle Filme nicht nach dem Geschlecht der Regie beurteilen, sondern einzig nach der Qualität. Doch mit den #MeToo- und #TimesUp-Bewegungen wurde der Druck auf Cannes zu gross, als dass Frémaux den Status quo hätte halten können. Ein erstes Zeichen setzte er mit den Jury-Berufungen: Die Wettbewerbsjury wird von Cate Blanchett präsidiert, ihr gehören fünf Frauen und vier Männer an, und der Jury der Nebensektion Un Certain Regard steht die Schweizerin Ursula Meier vor.
Die Aktionen der letzten Tage vermochten nicht rundum zu überzeugen, die 82 Frauen auf dem roten Teppich schienen zufällig zusammengetrommelt worden zu sein. Im Anschluss an die Manifestation wurde «Les filles du soleil» der Französin Eva Husson (*1977) gezeigt, ein zwar stellenweise zum Zerreissen spannender, aber trotzdem misslungener Kriegsfilm. Zu viel Pathos und eindimensionaler Figurenzeichnung, sodass beim Rausgehen eine Kritikerin frotzelte, das Werk sei wohl nur dank Frauenbonus in den Wettbewerb eingeladen worden.
Für einen der Höhepunkte des Festivals sorgte dann glücklicherweise eine andere Frau, nämlich die Italienerin Alice Rohrwacher (*1982). Sie erzählt in dem von der Schweiz koproduzierten Drama «Lazzaro felice» von einer Gräfin (Nicoletta Braschi), die auf einem Landgut in den Bergen rund ein Dutzend Bauern und ihre Familien wie Sklaven auf ihrer Tabakplantage arbeiten lässt. Die Landeier wissen nichts von der Zivilisation, die aber in der Gestalt des rebellischen Sohnes der Gräfin in ihre hermetische Welt eindringt. Als dieser sich in den Bergen versteckt und von der Polizei gesucht wird, fliegt das klandestine Feudalsystem auf. «Lazzaro felice» spielt zwar in der jüngeren Vergangenheit, ist aber leicht als Parabel auf die Gegenwart zu lesen: Es geht um einfache Arbeiter, die von unmoralischen Grosskapitalisten ausgebeutet werden.
Der Film besticht mit einem poetischen Realismus, der an Fellini und Pasolini gemahnt, und erhielt vom Gala-Publikum über zehn Minuten Applaus. Alice Rohrwacher, die mit ihrem letzten Film «Le meraviglie» den Grossen Jurypreis in Cannes gewann, hat gute Chancen, am Sonntag die Goldene Palme zu gewinnen. Sie wäre, 25 Jahre nach Jane Campions Triumph mit «The Piano», erst die zweite Frau, der das gelänge.