Kölner Übergriffe
«Solche primitiven Männer gibt es auch in der Schweiz»

Islam-Expertin Saida Keller-Messahli hält Übergriffe wie in Köln auch in der Schweiz für möglich. Frauenrechtlerinnen fordern nun eine Debatte über das Frauenbild der Muslime, um ähnliche Taten zu verhindern.

David Egger
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Frauen protestierten am Dienstag vor dem Kölner Dom gegen Sexismus.

Frauen protestierten am Dienstag vor dem Kölner Dom gegen Sexismus.

Keystone

Sie wollten feiern. Dann wurden sie von Männern umzingelt, begrapscht und ausgeraubt: So erging es in der Silvesternacht rund hundert Frauen zwischen Kölner Dom und Hauptbahnhof. Das immense Ausmass dieser Gewalt gegen Frauen hat sich erst in den letzten zwei Tagen so richtig herauskristallisiert, nachdem bei der Kölner Polizei ständig neue Anzeigen erstattet wurden – bis gestern Nachmittag waren es 90 an der Zahl.

Indem sie die Frauen umzingelten, verdeckten die Täter zugleich der Polizei die Sicht auf die abscheulichen Vorgänge. Mehrere Opfer dürften zwar geschrien haben. Doch Silvesterfeiern sind laut, die Polizei bekam von der sexuellen Gewalt nichts mit. Ausser jener Polizistin in Zivil, der ebenfalls in den Schritt gefasst wurde.

Polizei verkannte Ernst der Lage

Eines der Opfer warf der Polizei vor, die Lage heruntergespielt zu haben, nachdem sie sich noch vor Ort bei den Einsatzkräften gemeldet hatte. Dass die Polizei sich des Ausmasses der Tragödie nicht bewusst war, zeigte sich, als sie am 1. Januar Bilanz zog zur Silvesternacht: «Die Einsatzlage gestaltete sich entspannt – auch weil die Polizei sich an neuralgischen Orten gut aufgestellt und präsent zeigte.»

Dennoch entging ihr die Gefahr, die vom Pulk auf dem Bahnhofsvorplatz ausging: gut 1000 Männer vorwiegend arabischer Herkunft, ein Grossteil davon alkoholisiert. Aus dieser Meute stammten die Täter.

In einem Interview mit dem «Deutschlandfunk» sprach Arnold Plickert, Landesvorsitzender der Polizeigewerkschaft Nordrhein-Westfalen, gestern Mittag von 100 bis 150 Tätern. Wie das Kölner Polizeipräsidium auf Anfrage bestätigt, hat die Polizei noch keine Tatverdächtigen festgenommen. «Wir konnten nicht helfen. Das ist auch für uns eine Belastung», sagt Polizeigewerkschafter Arnold Plickert.

Die Chancen auf erfolgreiche Ermittlungen sind laut Plickert nicht gross. So lieferten zum Beispiel die Überwachungskameras wegen der Dunkelheit kaum auswertbare Bilder. Zudem wurden die meisten Anzeigen erst mehrere Tage nach Silvester erstattet. «Es ist gut möglich, dass erst das Wissen darum, mit dem Erlebten nicht alleine zu sein, die Frauen ermutigt hat, auch selbst Anzeige zu erstatten. Mit den vielen Anzeigen erhält ihr Wunsch nach Aufklärung zudem mehr Gewicht», sagt dazu Mirjam Della Betta von der Frauenberatung sexuelle Gewalt in Zürich.

Inzwischen kam es zu einem Krisentreffen zwischen der Politik und den Sicherheitskräften. Dabei wurde auch über die Sicherheit des berühmten Kölner Karnevals gesprochen. Dieser bietet noch mehr Menschenmassen, in denen Delikte verübt werden könnten, wie sie in der Silvesternacht passierten. Vorerst wird die Polizeipräsenz rund um den Hauptbahnhof verstärkt.

Hierbei stellt sich allerdings die Frage, ob Massnahmen wie diese langfristig weiterhelfen. Verschiedene Frauen forderten gestern, dass man sich mit dem kulturellen Hintergrund der Täter auseinandersetzen müsse. «Sie wurden lange tabuisiert, aber wir müssen uns mit gewaltlegitimierenden Männlichkeitsnormen in der muslimischen Kultur auseinandersetzen», meinte gestern die frühere Bundesfamilienministerin Kristina Schröder.

«Gibt es auch in der Schweiz»

Saida Keller-Messahli vom Schweizer Forum für einen fortschrittlichen Islam vermutet, dass es sich bei den Tätern um Männer handelt, die sich von der Gesellschaft ausgeschlossen fühlen und die ein total überhöhtes Bild vom Mann in sich haben. «Es reicht ihrer Ansicht nach, Mann zu sein, um über Frauen verfügen zu können. Solche primitiven Männer gibt es auch in der Schweiz.»

Die Hemmschwelle für derartige Taten liege in anonymen Grossstädten wie Köln aber wesentlich tiefer, so Keller-Messahli. Der einzige Weg für solche Männer, die freiheitlichen Prinzipien der westlichen Welt zu verinnerlichen, sei die Erfahrung, sich als Teil der Gesellschaft zu fühlen und zu verstehen, dass die Menschenwürde auch für Frauen gilt.

Die deutsche Soziologin Necal Kelek, die schon mehrfach zum Frauenbild im Islam publiziert hat, sagt auf Anfrage: «Diese Männer nutzten anscheinend bewusst und schamlos die Freiheit der Frauen aus, in der Öffentlichkeit zu feiern oder zu reisen. Die Täter fühlten sich kollektiv moralisch dazu legitimiert, die Opfer sexuell zu attackieren und auszurauben, weil sie das Prinzip der Gleichheit zwischen Mann und Frau nicht kennen und akzeptieren.»

Integrationsverträge als Lösung

Als nachhaltige Lösung fordert Kelek, dass der deutsche Staat mit Einwanderern Integrationsverträge abschliessen sollte, in denen unter anderem diese Gleichheitsprinzipien festgehalten werden. «Deutschland muss nicht nur versorgen, sondern auch einfordern. Wer unsere Prinzipien nicht akzeptiert, lebt im falschen Land. Ich hoffe, dass sich nun auch die Politiker Gedanken dazu machen. Denn eine stärkere Polizeipräsenz alleine löst dieses Problem nicht langfristig.»

Der deutsche Bundesjustizminister Heiko Maas nannte die Vorfälle gestern eine «neue Dimension der organisierten Kriminalität». Bei ihren Ermittlungen stützt sich die Polizei nun auch auf Internetforen und soziale Medien: Möglicherweise hatten sich die Täter über solche Plattformen verabredet und organisiert. Um ähnliche Taten in Zukunft zu verhindern, will die Stadt Köln zudem noch vor dem Karneval Präventionshinweise veröffentlichen. Eine gut gemeinte Sache, die aber letztlich dazu führen könnte, dass die Frauen ihre Freiheit selbst einschränken. Es wäre das Gegenteil davon, was die verschiedenen Frauenrechtlerinnen fordern.