Politik und verpasste Chancen haben in Australien den einst erfolgreichen Kampf gegen Covid-19 zu einem Wettlauf gegen die Zeit werden lassen.
Es ist 11 Uhr früh und damit Zeit für die Show, die eigentlich niemand sehen will. Jeden Tag gibt die Regierungschefin des Bundesstaates New South Wales in Sydney am Fernsehen live die neusten Covid-Zahlen bekannt: 753 Neuansteckungen waren es am Dienstag. Dann, mit der düsteren Mine, die zum Markenzeichen von Gladys Berejiklian geworden ist, folgt ihr Spruch: «Wir tun, was wir können».
Nicht genug, meint eine wachsende Zahl von Kritikern. Nachdem Australien dank der raschen Schliessung seiner Grenzen im März letzten Jahres die Covid-Ansteckungen auf ein Minimum beschränken konnte, rollt heute mit grosser Geschwindigkeit eine dritte Welle durch das Land. Am 21. August meldeten die Behörden landesweit 891 neue Fälle von Covid-19.
Vom bevölkerungsreichsten Bundesstaat New South Wales und der Stadt Sydney aus hat sich die Delta-Variante des Virus in das Bundesland Victoria und die Stadt Melbourne verbreitet, sowie nach Südaustralien und in die Hauptstadt Canberra. Inneraustralische Grenzen sind wieder mehrheitlich geschlossen. Lockdown ist Alltag für Millionen zunehmend frustrierter Menschen. In Melbourne kam es am Wochenende zur Gewalt zwischen Massnahmen-Gegnern und der Polizei.
In Sydney sind die Strassen nach über acht Wochen Lockdown praktisch leer. Doch das war lange Zeit nicht so: unter dem Druck mächtiger Wirtschaftsverbände verhängte Berejiklian erst nur über betroffene Stadtteile Beschränkungen, später dann über Nachbarquartiere. Statt Geschäfte sofort zu schliessen, blieben selbst Heimwerkermärkte noch lange geöffnet. Unter dem Druck galoppierender Ansteckungszahlen machte der Grossraum Sydney letzte Woche dicht. Inzwischen gilt nachts eine Ausgangssperre.
Premierminister Scott Morrison weigert sich derweil, im Kampf gegen Covid-19 selbst die Führung zu übernehmen. Selbst Mitglieder seiner Partei werfen ihm Handlungshemmung vor. Während die Verhängung von Lockdowns und anderen Massnahmen Aufgabe der Bundesstaaten ist, versagte die Bundesregierung in der vielleicht wichtigsten Schlacht gegen die Pandemie: Impfen. So hatte sie im vergangenen Jahr zu wenig Impfstoffe aus dem Ausland bestellt – allem voran Pfizer.
Stattdessen verliess sie sich auf das in Australien hergestellte Produkt von Astrazeneca. Als dann wegen der seltenen Gefahr von Blutgerinnseln im Gehirn Geimpfter Bedenken über die Sicherheit des Vakzins aufkamen, trug die Regierung zur Verunsicherung der Bevölkerung bei. Sogar Gesundheitsminister Greg Hunt riet, «auf Pfizer zu warten». Das Resultat: erst 24 Prozent der Bevölkerung sind heute komplett geimpft. Damit steht Australien auf Platz 34 unter den 38 OECD-Ländern.
Canberra lässt inzwischen keine Gelegenheit aus, die Bevölkerung zum Impfen zu motivieren. Bei einer Impfdichte von 70 Prozent der Erwachsenen locke die Rückkehr zur Normalität - das Ende der Lockdowns, die stufenweise Öffnung der für Reisende geschlossenen Grenzen. Die Regierung stützt sich dabei auf Zahlen der Forschungsanstalt Doherty Institute, die für die Zeit nach Erreichung dieses Grenzwertes vergleichsweise niedrige Sterbezahlen prognostiziert.
Doch ein am Dienstag veröffentlichtes Modell einer Gruppe von unabhängigen Wissenschaftern zeichnet ein erschreckend anderes Bild: selbst wenn bei einer Impfdichte von 80 Prozent der Bevölkerung die Massnahmen gelockert würden, drohten dem Land noch immer 25'000 Todesopfer und 270'000 Fälle von Covid-Infizierten mit Langzeitschäden. «Für Australien ist Impfen ein Wettlauf gegen die Zeit geworden, den wir ganz einfach gewinnen müssen», so ein Epidemiologe am Fernsehen.