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Vor genau zehn Jahren brach der Arabische Frühling an. Gebracht hat er neue Kriege und viel Leid. Und die Erkenntnis, dass der Westen seine Strategie ändern muss.
Am 17. Dezember 2010 zündete sich der Gemüsehändler Mohamed Bouazizi in Tunesien an – aus purer Verzweiflung über die Schikanen der Behörden. Kurz darauf verstarb der 26-Jährige im Spital. Die Tat war der Auslöser für den Arabischen Frühling. Millionen Menschen gingen gegen die Regime auf die Strasse. Jetzt, genau zehn Jahre später, ist die Euphorie verflogen. Die arabischen Autokraten gängeln ihre Völker noch immer. Adelige Herrscherdynastien und mafiöse Kartelle aus Politikern und Oligarchen kontrollieren vielerorts bis heute den Gang der Dinge.
Die trübe Bilanz zieht auch Europas bisherige Nahost- und Nordafrikapolitik in Zweifel. Wie umgehen mit einer Nachbarregion, die Unsummen an Entwicklungsgeldern einstreicht, deren Regime aber noch immer keinen Willen zum Wandel zeigen? Zehn Jahre nach dem Ausbruch der Bewegung sind Machtmissbrauch und Misere in fast allen Ländern noch immer omnipräsent. Trotzdem sind die Unterschiede zwischen den einstigen Protestnationen heute beträchtlich.
Das Ursprungsland des Arabischen Frühlings ist die einzige Nation, in der der Übergang zu einer demokratischen Ordnung einigermassen funktioniert hat. Der Diktator Ben Ali war der erste arabische Herrscher, der abtreten musste. Das Land hat seit 2015 eine neue Verfassung. Politisch sei sein Land zwar eine Erfolgsgeschichte, sagt der tunesische Parlamentspräsident Rached al-Ghannouchi unserer Zeitung in einem Telefoninterview. Wirtschaftlich brauche das Land aber mehr Hilfe. «Wir sind das einzige Schiff, das noch den Wellen standhält, die einzige erfolgreiche Demokratie in der arabischen Welt.» Die hohe Arbeitslosigkeit treibt allerdings nach wie vor viele aus dem Land. Die europäische Grenzschutzagentur Frontex registrierte in den ersten zehn Monaten 2020 im zentralen Mittelmeerraum rund 28400 Flüchtlinge. 40 Prozent davon waren Tunesier.
Libyen versank nach dem Ausbruch des Arabischen Frühlings in der Anarchie. Machthaber Muammar al-Gaddafi wurde 2011 nach mehr als 40 Jahren von Rebellen erschossen. Seit 2014 ist das Land in zwei verfeindete Teile gespalten. Die Regierung von Fayiz as-Sarradsch beherrscht den Westen mit der Hauptstadt Tripolis, die Truppen von General Chalifa Haftar kontrollieren den Osten des Landes. Mehr als eine Millionen Menschen leiden an Hunger.
Der Tahrir-Platz in Kairo war das Epizentrum der arabischen Proteste. «Das Volk will den Sturz des Regimes», riefen die Demonstranten. Machthaber Hosni Mubarak wurde aus seinem Amt gejagt. Auf Mubaraks Sturz folgte eine demokratische Wahl. Doch der neue Präsident Mohammed Mursi vergraulte grosse Teile der Bevölkerung mit seinem islamistischen Programm. Mursi wurde 2013 von der Armee gestürzt und durch Ex-General Abdel Fattah el-Sisi ersetzt. Er regiert das Land seither mit harter Hand.
Libanons Staatsmafia rührt selbst nach der Beiruter Hafenexplosion im August 2020 keinen Finger, weil sie darauf pokert, dass Brüssel am Ende doch die Milliarden locker macht. Emmanuel Macron, der Präsident der einstigen Kolonialmacht Frankreich, hat für kommende Woche einen Besuch im Libanon angekündigt, um Druck auf die korrupte Machtelite auszuüben.
Die Aufstände lösten in Syrien einen Bürgerkrieg aus, dem bis heute rund 500'000 Menschen zum Opfer gefallen sind. Millionen haben die Flucht ergriffen. Machthaber Baschar al-Assad liess bereits zu Beginn der Proteste auf Bürger schiessen. Die Aufstände kosteten ihn fast die Macht, bis Russland 2015 ihm zu Hilfe eilte. US-Präsident Barack Obama drohte, im Falle des Einsatzes von Chemie-Waffen ebenfalls einzugreifen. Obama machte seine Drohung allerdings nie wahr – trotz des nachgewiesenen Einsatzes von C-Waffen.
Die Proteste zwangen auch den Staatschef Ali Abdullah Saleh zum Rücktritt. Im Jemen hat sich der interne Konflikt zu einem Stellvertreterkrieg zwischen den Rivalen Saudi-Arabien und Iran entwickelt. Seit 2015 unterstützt eine von Saudi-Arabien angeführte Koalition die Regierung von Präsident Mansur Hadi, der sich mit den vom Iran gestützten Huthi-Rebellen einen grausamen Krieg liefert. Die Vereinten Nationen befürchten, dass Millionen Jemeniten jederzeit wieder in eine Hungersnot geraten könnten.