Basel
Was wir gut und böse finden, kommt ohne christliche Traditionen nicht aus

Die Hälfte der Basler will mit der Religion nichts mehr zu tun haben. Das flösst zumindest die neue Statistik ein, welche diese Woche veröffentlicht wurde. Doch das ist falsch. Zudem hat der Staat die Pflicht, sich um die Religionen zu kümmern.

Matthias Zehnder
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Abdankungsgottesdienst anlässlich des Todes von Märchenerzählerin Trudi Gerster (Archivbild).

Abdankungsgottesdienst anlässlich des Todes von Märchenerzählerin Trudi Gerster (Archivbild).

Juri Junkov

Fast die Hälfte der Baslerinnen und Basler gehört keiner Religion mehr an. 18% sind evangelisch-reformiert, 15% katholisch, 9% muslimisch. Das sind Zahlen, welche diese Woche das Statistische Amt Basel-Stadt und die Koordinationsstelle für Religionsfragen veröffentlicht haben. Um die Pressekonferenz herum gab es viel Polemik, die sich in zwei Behauptungen zusammenfassen lässt: Die Hälfte der Basler hat mit Religion nichts am Hut und den Staat geht die Religion nichts an. Beides ist falsch.

Religion hat nämlich zwei Aspekte: Glaube und Kultur. In der Tat ist es so, dass viele Menschen sich nicht mehr als gläubig bezeichnen oder zumindest ihren privaten Glauben ausserhalb der grossen Religionsinstitutionen leben. Und es ist ganz sicher so, dass dieser Glaube Privatsache ist und den Staat nichts angeht. Religion ist aber immer auch Kultur. Oder umgekehrt: Ein grosser Teil der Art, wie wir miteinander zusammenleben, wie wir denken, was wir gut und was wir böse finden, basiert auf der Religion.

Ob sich der Einzelne als religiös bezeichnet oder nicht, ist dabei völlig egal. Entscheidend ist, dass er Werte, Sitten und Gebräuche lebt, die einen religiösen Ursprung haben. Ein simples Beispiel ist der Sonntag: Zwar gehen nur noch wenige Menschen in die Kirche, trotzdem ist die Idee, dass der Mensch am siebten Tag ruhen und sich um seine Familie kümmern soll, gesellschaftlich kaum bestritten. Der Sonntag ist Teil unserer Kultur.

Was wir gut und was wir böse finden, unsere Vorstellungen von Schuld und Sühne, sind ohne christliche Tradition nicht denkbar. Ganz zu schweigen von Institutionen wie der Ehe, Festtagen wie Weihnachten und Traditionen wie der Taufe. Dass all das nicht selbstverständlich ist, wird einem im Kontakt mit Menschen aus anderen Kulturkreisen mit entsprechend anderem religiösem Hintergrund bewusst. Gerade das macht diese Kontakte so wertvoll: Sie führen vor Augen, wie relativ der Boden ist, auf dem wir stehen.

Es sind genau diese kulturellen Bereiche der Religion, die im Zusammenleben Probleme bereiten. In der Schule ist es zum Beispiel ein Weihnachtslied oder das Mittagessen im Lager. Am Arbeitsplatz ist es das Kopftuch oder der Ramadan. Unterschiede treten übrigens nicht nur in der Berührung von christlichen und nicht-christlichen Religionen zutage. Amerikaner nehmen zum Beispiel das fünfte Gebot (das bei Katholiken und Lutheranern das vierte ist) viel ernster als wir: Ehre deinen Vater und deine Mutter. Reformierte begreifen Arbeit anders als Katholiken als Weg zum Seelenheil.

Die Welt des Glaubens ist für den Staat tabu. Wo die kulturellen Unterschiede der Religionen zum Problem werden, kann der Staat gefordert sein – vom Schinkenbrot in der Schulmensa bis zu den Bestattungsriten nach einem Todesfall. Es ist deshalb nicht nur sinnvoll, dass sich der Staat auch um die Religionen kümmert, es ist seine Pflicht. Ziel muss es sein, dass aus dem Kontakt der Kulturen kein Clash of Civilizations, also kein Kampf wird, sondern dass es eine Begegnung wird. Denn diese Begegnung mit dem Anderen ist eine Möglichkeit, sich selber besser kennenzulernen und zu merken, wie wichtig unter der ach so laizistischen Fassade auch bei uns die Religion in Tat und Wahrheit ist.