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Heute vor 50 Jahren durften sich die Frauen erstmals den Grossratswahlen stellen. 14 schafften den Einzug ins Parlament auf Anhieb. Doch der Weg zur Anerkennung war noch weit.
«Meine Damen und Herren», sagte Alterspräsident Alfred Stückelberger. Es ist eine nüchtern gehaltene, aber im Inhalt sensationelle Ansprache. Man sieht sie nicht, die Mühen, den Kampf, die sie gebraucht hat, um durch den Grossratssaal zu hallen. Zum ersten Mal in dessen fast 600-jährigem Bestehen. Stückelberger war am 9. Mai 1968 der Erste in seinem Amt, der in seiner Sitzungseröffnung auch die Frauen einbezog. Einbeziehen musste. Denn die Frauen, 14 an der Zahl, hatten sich dieses Recht in den Wochen und Monaten zuvor erstritten. Heute vor 50 Jahren, also am 17. März 1968, war klar: Basel-Stadt ist der erste Schweizer Kanton mit Frauenbeteiligung in seinem Parlament.
Riehen war schneller ausgezählt als die Stadt, bereits früh stand deshalb der Einzug von Helen Hauri in den Grossen Rat fest. Sie war damals Rektorin der Basler Mädchenrealschule. Auf sie folgten im Verlauf der Auszählung 13 weitere Frauen. Gemeinsam machten sie knapp 11 Prozent des damals noch 130 Rätinnen und Räte zählenden Parlaments aus: Gertrud Spiess, Helene Burckhardt, Erika Faust-Kübler, Uarda Frutiger, Rosemarie Hernandez-Kartaschoff, Trudi Kocher, Marianne Mall-Haefli, Marie-Agnes Massini, Alice Schaub, Alice Veith, Hedwig Vogt-von der Crone, Gertrud Walter-Gerster (bekannt als «Märchentante» Trudi Gerster) und Louise Stebler waren die anderen.
Louise Stebler war eine der Vorkämpferinnen für Frauenrechte in Basel. Heute wohnt die 93-Jährige in einem Hochhaus am Weiherweg. Ihre Sehfähigkeit hat markant nachgelassen. Um die Zeitung zu lesen, braucht sie heute eine Lupe. Scharf sind hingegen ihre Erinnerungen. Den ersten Tag im Grossen Rat, den hat Stebler zwar vergessen. Aber über den Wahlkampf weiss sie noch vieles im Detail. Die meisten Basler begrüssten ihr Engagement. «Basel war schon damals fortschrittlich», sagt sie. Aber es gab auch in der progressiven Rheinstadt Ausnahmen. Ein liberaler Grossrat, der für die Pharma tätig war, verscheuchte die Frauen vom Firmengelände beim Badischen Bahnhof. «Der gleiche, ein Burckhardt vom Daig wars, war nachher ganz nett zu allen Frauen im Parlament», sagt Stebler mit einem Lachen.
Sie erinnert sich auch, wie die ersten Frauen im Parlament fraktionsübergreifend arbeiteten und auch gemeinsam Frauenthemen anpackten. «Ich glaube, wir haben viel zur Stimmung beigetragen damals. Vorher, als nur Männer im Parlament sassen, waren die Gräben viel tiefer. Wir konnten das auflockern.» Wenn Frauenthemen auf der Traktandenliste standen, trafen sich die Mandatsträgerinnen eine halbe Stunde vor der Sitzung zur Absprache. Das haben viele Männer nicht verstanden. An eine Episode erinnert sie sich besonders gut.
Als sie einmal einen Vorstoss für eine Kindertagesstätte eingereicht hatte, sei sie von allen Frauen unterstützt worden. Da seien die Männer «fast vom Stuhl gefallen». Gemeinsam hätten die Frauen vieles angestossen, das heute selbstverständlich sei. «Heute gibt es ja so viele Kindertagis», sagt Stebler. Wenn ich in den Schützenmattpark schaue, sei immer «öppe» eine Gruppe Kleinkinder unterwegs.
Die «National-Zeitung» nannte die Fraktion der Grossrätinnen «gewiss noch keine repräsentative Vertretung», freute sich aber doch über einen «schönen Anfang». «Und wenn man die Namen der gewählten Frauen durchgeht, gewinnt man den Eindruck, die quantitativ eher bescheidene Vertretung sei dafür qualitativ grösstenteils gut bis sehr gut.» Danach folgten eine Gratulation und ein Versprechen der Zeitung, sie im Rahmen des Möglichen objektiv zu beurteilen.
Die Aufregung der Presse damals ist verständlich. Niemand hatte voraussehen können, wie sich das 1966 eingeführte Frauenstimmrecht auswirken würde. Zu rechnen war in jedem Fall mit einer grossen Zunahme von Wählenden, das Potenzial hatte sich ja verdoppelt. Deswegen kamen erstmals Computer zum Einsatz, als «Elektronengehirn» umschrieben. Aber selbst wie lange dieses rechnen müsse – dazu wagte niemand eine Prognose. Über allem aber kreiste die Frage: Wie stimmen Frauen? Die überraschende Antwort: tendenziell bürgerlich. Von den 14 gewählten Frauen gehören vier den Liberaldemokraten an, ebensoviele dem Landesring, eine Mittepartei, die sich 1999 auflöste. Drei Frauen kamen aus der SP, je eine aus der EVP, der CVP, und sogar eine Kommunistin der PdA war dabei.
Das war Louise Stebler. Sie sollte 24 Jahre lang im Grossrat sitzen – mit Unterbrüchen. Erst 1996, mit 72 Jahren, zog sie sich zurück. Stebler war in einem äusserst linken Umfeld sozialisiert worden, hatte mit 17 Jahren aufmerksam gelauscht, als ihr Vater sich im Klybeck-Casino mit Freunden traf, um zu politisieren und für die Arbeitnehmerrechte einzustehen.
Selbst habe sich Stebler in diesem Umfeld als Frau nie geringgeschätzt gefühlt. «Für die damalige Zeit war die PdA unglaublich offen. An unsere Versammlungen kamen auch zwei schwule Männer, die zusammen wohnten. Aber das interessierte niemanden.» In der Schule aber bekam sie es mit einem konservativeren Umfeld zu tun. Als eine der wenigen Linken durfte sie ans Basler Mädchengymnasium in den sogenannten Affenkasten. Hier wurde sie Zeugin so mancher Ungerechtigkeit. Als eine Mitschülerin aus ärmeren Verhältnissen aus der Klasse flog, habe der Rektor gesagt: Es sei eben keine Schule für Arme.
Allgemein wurde bei den Linken in den 60er-Jahren die Gleichberechtigung vorangetrieben.
Doch für die SP bedeutete die Einführung des Frauenstimmrechts an den ersten Wahlen auch eine Niederlage. SP-Nationalrat Helmut Hubacher liess sich damals in den «Basler Nachrichten» so zitieren: «Dass in Basel vor allem die eher zur Linken gehörenden Wählerinnen noch gewisse Mühe im Umgang mit der Politik bekundeten, musste leider befürchtet werden. Hier gilt es, eher etwas vernachlässigte Basisarbeit aufzuholen.» Hubacher kann sich noch an jene Zeit erinnern. Schliesslich kosteten ihn diese Wahlen sein eigenes Grossratsmandat. Das hing aber nicht mit den Frauen zusammen, sondern mit der gleichzeitig eingeführten Amtszeitbeschränkung.
Diese beiden Neuerungen führten dazu, dass rund die Hälfte aller Grossrätinnen und Grossräte neu im Parlament Einsitz nahm. «Es war ein schwieriger Anfang, wir mussten nachhelfen», sagt Hubacher. «Bald darauf führten wir innerhalb der SP eine Quote bei den Kandidierenden ein, die Geschlechter sollten annähernd paritätisch verteilt sein.» Heute hat die SP mehr Frauen als Männer im Parlament. Auf der anderen Seite stand damals der heute 80-jährige SVP-Grossrat Roland Lindner. «Ich war 22, Leutnant, einziger Sohn, ein Macho. Natürlich war ich gegen das Frauenstimmrecht.» Auch Vater und Mutter waren gegen Frauen in der Politik. «Erst an der Uni lernte ich Frauen kennen, bis dann hatte ich fast nur mit Männern zu tun gehabt.» Das hat sein Weltbild geändert. Auch wegen seiner Tochter sagt er heute: «Ich bin überzeugt, dass Frauen gleichberechtigt sein sollen.»
Besser als die Sozialdemokraten machte es damals der Landesring, den die Medien allgemein als Wahlsieger ausmachten. Sie stellten auch den Grossratspräsidenten, Peter Müller. Müller stellte hohe Erwartungen an die Frauen: «Ich hege die Hoffnung auf eine Versachlichung. Bei den Frauen wird wohl weniger ‹Parteibüffelei› vorkommen», sagte er zur «National-Zeitung».
Frauen würden die «Abreagierung des persönlichen Ehrgeizes in der Politik» ablehnen und sich lieber zu ihnen nahestehenden Themen äussern. «Erziehung, Schule beispielsweise.» Die Frauen liessen sich darauf aber nicht beschränken. Es war jene Sitzung vom 9. Mai, als Erika Faust als erste Frau einen Anzug einreichte und eine Mietzinsbeihilfe an Betagte verlangte. Auch Louise Stebler brach immer wieder mit dem Vorurteil, wonach Frauen sich hauptsächlich um «Erziehungsfragen» kümmerten. Sie war beispielsweise die erste, die sich für behindertengerechte Trottoirs einsetzte.
Mit Genugtuung schaut sie zurück auf das Erreichte. 50 Jahre nach der ersten Wahl der Frauen in den Grossen Rat könne man jedenfalls keine grossen Unterschiede mehr zwischen Mann und Frau feststellen. «Im Grossen und Ganzen», sagt Stebler, «sehe ich heute keine Probleme mehr bei der Gleichstellung.»